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DER EINFLUSS DER ITALIENISCHEN MALEREI

Der tiefgreifende Wandel der künstlerischen Form, der sich während des
14. Jahrhunderts im gesamten Umkreis europäischer Kunst vollzog, wurde ge-
tragen von der gewaltigen Welle einer von Grund auf veränderten Stellung
des Menschen zur umgebenden Natur. Nicht die bildende Kunst allein zeugt
von neuem Erleben der Wirklichkeit. Überall scheint ein frühlinghaftes
Drängen und Knospen sich kundzutun. Aus den alt gewordenen Dogmen
der Religion selbst sproßte schon im 13. Jahrhundert das junge Reis eines neuen,
innigen Gottesglaubens, der die gesamte Schöpfung mit seiner Liebe umfing.
Wie der heilige Franz in tiefem Miterleben der Leiden Christi sich mit dem
geliebten Herrn eins werden fühlte, bis er in mystischer Verzückung am eigenen
Körper die Wundmale empfing, so dichtete aus völliger Versenkung in den
evangelischen Geist der heilige Bonaventura noch einmal, als hätte er selbst
seine Wege begleitet, das Leben Jesu Christi.
Diese überschwengliche religiöse Phantasie, die von einem lebhaften Natur-
empfinden ebenso wie von einem Bedürfnis nach unmittelbar hemmungsloser
Gefühlsentladung getragen war, durchtränkte nun auch die Schöpfungen der
Kunst. Der in strengem Dogmatismus erstarrte Stoffkreis mittelalterlich kirch-
licher Malerei erfüllte sich mit neuem Leben. Auch der Maler verleugnete die alt-
geheiligt kanonische Darstellungsform, auch er wollte das Bild des Herrn zeigen,
das er in sich trug, wollte die sieben Freuden und die sieben Schmerzen Mariens
als Glück und Leid einer wirklichen Menschenmutter, die Passion des Herrn als den
Todesweg eines armen, gemarterten Menschensohnes sichtbar werden lassen.
Solche weltliche Gesinnung fand in Italien Nahrung an den genrehaften
Motiven spätantiker Märchenerzählung, die auf toskanischem Boden in die neue
Kunst einzufließen begannen, und sie begegnete in einem allgemeinen Sinne
den gleichzeitigen Bestrebungen der Malerei, die durch ihre formale Entwicklung
auf die Wirklichkeit selbst in ihrem ganzen Umfange hingewiesen wurde.
Um die Mitte des 14. Jahrhunderts war nördlich der Alpen der Boden ge-
lockert, in den das Reis der italienischen Kunst verpflanzt werden konnte.
Jetzt wurden unter Papst Clemens italienische Meister nach Avignon berufen,
um die malerische Ausschmückung der großen Palastbauten zu übernehmen.
Der Sienese Simone Martini wurde zum Mittelsmann zwischen Toskana und
Frankreich, zum Lehrer einer neuen Generation von Künstlern, in deren Werk
sich die Assimilierung der italienischen Errungenschaften an den Geist nordischer
Malerei vollziehen sollte.
Avignon ging voran, von hier nahm der früheste und folgenreichste Strom
südlichen Einflusses nördlich der Alpen seinen Weg. Von Avignon verbreitete,
 
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