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Göbel, Heinrich; Göbel, Heinrich [Hrsg.]
Wandteppiche (II. Teil, Band 1): Die romanischen Länder: Die Wandteppiche und ihre Manufakturen in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal — Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.16360#0290
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To urs.

To urain e.

Grenzgebiete

im Kranze der Dame Vertu des „Chapelet des Dames" von Jean Molinet. Die Haltung
der Wappentiere dürfte zu der Deutung stimmen, Löwe und Einhorn machen vor
der Herrin, die die Tugend des Geschlechtes verkörpert, ihre Reverenz. Das reizvolle
Bild wird noch intimer gestaltet durch den kleinen Affen, das Modetier des sterbenden
15. Sakulums, der im Hintergrunde auf dem, auf einen Schemel gestellten Korbe
hockt und an einer weißgelben Hose schnuppert. Das Inventar des Schlosses Thouars
enthalt übrigens auch einen Behang „appelee les Chappeaux", der aller Wahrscheinlich-
keit nach gleichfalls den Ehrenhut — unter dieser Bezeichnung gehen die Kränzlein in
der zeitgenössischen Literatur — zur Darstellung bringt. Im dritten Teppich spielt
die Dame auf einer kleinen Hausorgel, die auf einem von reichem Brokatstoff verhüll-
ten Tische steht; die Dienerin bedient die Bälge, die Wappentiere lauschen andächtig.
Es ist fraglich, ob das Orgelspiel die Frömmigkeit charakterisieren soll, oder ob nicht
lediglich ein allgemein beliebtes Motiv, „ä la mode", von dem entwerfenden Künstler
gewählt worden ist. Der vierte Behang bringt ein leicht verständliches Symbol. Die
Dame ruht inmitten des Verger d'honneur, sie hält in der Linken einen reichgetriebe-
nen Spiegel, der das Bild des Einhorns wiedergibt, das sich vertrauensvoll ihr an-
schmiegt. Die Haltung des sagenhaften Tieres und der Dame illustrieren ein uraltes
Motiv aus dem Physiologus, das schon früh auf die unbefleckte Empfängnis des Hei-
landes übertragen wurde. Der Spiegel wiederum repräsentiert die Wahrhaftigkeit
und Erkenntnis. Der fünfte Teppich bringt die Fortsetzung der Idee. Die Dame steht
aufrecht, in der Rechten das Banner des Hauses; die Linke berührt das Horn des
Wappentieres. Der letzte Behang schließlich stellt eine Art Apotheose dar. Die Herrin
weilt vor dem Zelte des Geschlechtes — besondere Beachtung verdienen die Buch-
staben a und p, die den Spruch rahmen —, die Wappenlegende, a „a mon seul desir"
p schlingt sich als Fries um die obere Kante; Hermelinschwänzchen sind dem blauen
Brokatmuster der von Löwe und Einhorn hochgerafften Bahnen aufgestreut; das Banner
de Le Viste flattert auf dem Knaufe des Zeltes. Die Dienerin reicht der Herrin die
Schmuckkassette, aus der die Domina eine aus Rosen zusammengestellte Ehrenkette
nimmt — eine Anspielung auf den von Christine de Pisan (f 1431) gegründeten Rosen-
orden liegt wohl kaum mehr vor. Ein Modehündchen hockt auf brokatenem Kissen
auf dem Schemel zur Linken der Herrin. Ein zweiter Deutungsversuch sieht in der Folge
die Symbolisierung der fünf Sinne (Gesicht: Dame mit dem Spiegel; Gehör: Orgelspiel;
Geschmack: die Dame füttert den Papagei; Geruch: Dame mit dem Blumenkranz; Gefühl:
Dame mit der Hand am Hörne des sagenhaften Tieres; der letzte Teppich „Mon seul desir"
findet leider keine annehmbare Erklärung) (34).

Vergleichen wir die Folge mit den gleichzeitigen Tournaiser Arbeiten, so ergibt
sich sowohl im Stil, der in seiner zierlichen, liebenswürdigen Linienführung etwas
an den Meister von Moulins erinnert, als auch in der Technik, in Sonderheit in
der Lösung der Einzelheiten, eine starke Abweichung. Ähnlichkeiten finden sich in
der Wiedergabe der Orangen- und Eichenbäume, anders geartet ist dagegen das
Nadelholz; es dürfte sich um eine Kiefernart handeln, für die der entwerfende Künstler
eine besondere Vorliebe besessen zu haben scheint, sie kehrt wieder in der rech-
ten Hälfte des ersten und zweiten Behanges (Abb. 310), sowie auf der linken Seite
der beiden letzten Teppiche der Folge. Ist in dem Eichen-, Orangen- und dem
Stechpalmenlaub noch deutlich die Lehrmeisterin Tournai erkennbar, so gibt sich
die Erfassung des Nadelbaumes wesentlich weicher und flächenhafter; die klare
Linienführung Tournais, die eine gewisse Perspektive verbürgt, ist verschwunden.
Ähnlich verhält es sich mit der Durchführung der Gewänder. Die Brokatmusterung
— das sogenannte Granatapfelmotiv herrscht vor — ist liebevoller herausgearbeitet
wie in den meisten Tournaiser Behängen — die frühen Arbeiten aus den siebziger und
achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts ausgenommen —, die moirierte Seide tritt scharf
und klar in Erscheinung; entsprechend verhält es sich mit der Wiedergabe der unge-
musterten Samtstoffe. Anstelle des reinen Schraffenübergangs erscheinen gleichsam
schillernd, eingeschobene Zwischenlagen, die mit dem altüberkommenen Farbenzirkel in

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