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Göbel, Heinrich; Göbel, Heinrich [Hrsg.]
Wandteppiche (II. Teil, Band 1): Die romanischen Länder: Die Wandteppiche und ihre Manufakturen in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal — Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.16360#0341
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To urs.

Toüraine.

Grenzgebiete

Ziehen wir das Schlußergebnis der voraufgegangenen Untersuchungen, so folgert
ein seltsam zwiespältiges, zerrissenes Bild. Die erste Blüte, die mit der zweiten
Hälfte des 15. Säkulums einsetzt, steht unter dem starken Einflüsse von Tournai. Die
Erzeugnisse der Werkstätten, die sich nicht nur auf Tours beschränken, sondern auch
eine erkleckliche Zahl kaum oder noch nicht erforschter sporadischer Stadt-, Schloß-
und Klostermanufakturen umfassen, sind in Technik, Farbengebung und Entwurf viel-
fach verschieden. Die Gruppe, die mit der „Dame mit dem Einhorn" zusammenhängt,
die ein durchaus gleichartiges Gepräge trägt, dürfte in einer einheitlich geleiteten Zen-
trale entstanden sein. Nicht ganz so leicht ist die Einordnung des „Feudallebens", das
stark mit dem Kulissenprinzip, mit der willkürlichen, lediglich durch Raumgröße und
Sonderwünsche bedingten Einfügung italienisierender Figuren arbeitet, das ein ganz
eigenartiges Farbempfinden aufweist, aber immerhin mit der Einhornreihe in Ver-
bindung steht. Der Farbenzirkelj pflanzt sich mit gewissen Abänderungen in der
großen Stephanus-Remigiusgruppe fort. Das Feudalleben und eine Reihe kirch-
licher Behänge der dritten Gruppe dürfte an Ort und Stelle des Auftrages ent-
standen sein. Die Masse der aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts noch erhaltenen
Folgen setzt eine Ateliertätigkeit voraus, die den Umfang Tournais fast erreicht, die
auch urkundlich einen starken Niederschlag zurückgelassen haben müßte. Tatsächlich
sind die Belege, selbst so weit die Stadt Tours in Frage kommt, nur äußerst spärlich
und unvollkommen. Die Erklärung läßt sich möglicherweise darin finden, daß ähn-
lich den verhältnismäßig reichlich uns überkommenen großblättrigen flämischen Ver-
düren, die sich in der Hauptsache auf wenig bekannte kleinstädtische und ländliche
Betriebe verteilen, die zahllosen, in erster Linie religiösen Folgen der Touraine-Gruppe
und der Grenzgebiete dergestalt auf die Gezeuge gelegt wurden, daß der betreffende
Meister dem Hof oder seiner Klientel folgte, d. h. seine Kunst im Umherreisen übte.
Kurzerhand den gesamten Bestand der besprochenen Gruppen an Tournai oder Oude-
naarde zu überweisen, rechtfertigen zunächst weder hypothetische Überlegungen noch
die stilistischen und technischen Befunde. Selbst die unter überwiegendem Tournaiser
Einfluß stehenden Reihen lassen noch eine Unzahl von Fragen offen, die lediglich durch
die systematische Erforschung der vielen kleinen kirchlichen und der zerstreuten adligen
Archive zu lösen sind, Fragen, die wahrscheinlich noch manche überraschende Ant-
wort finden werden. Es bedarf m. E. noch jahrzehntelanger, örtlicher Vorarbeit, ehe
eine endgültige einwandfreie Klärung erfolgt.

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