10 Künstler-Biographien.
Erscheinung des Seelischen nur im Körperlichen möglich ist. Er erfaßt daher die religiösen Auf-
gaben in einem neuen Geiste. Das specifisch Heilige und Mysteriöse in denselben tritt zurück
das rein Menschliche wird betont. Nicht Andacht zu wecken ist sein erster Zweck, sondern die
Ereignisse als etwas Wirkliches hinzustellen. Durch seine Gestaltungskraft vermag er es, den
Figuren einer vorgestellten Welt Fleisch und Blut zu geben, sie in seine eigene Welt zu versetzen,
!die ihm die unmittelbaren Vorbilder für Charaktere und Handlungen liefert. Da finden wir statt
des allgemeinen Typus der Köpfe einen individuellen Ausdruck. Die Züge und Geberden sprechen
die bestimmte Handlung und Situation klar und erschöpfend aus. Nicht blos das Auge, welches
dies erkennt, besitzt Masaccio, sondern auch die Hand, die es sicher festzuhalten versteht. Seine
künstlerischen Fähigkeiten beruhen auf jener consequenten theoretischen Durchbildung, die er sich
gemeinschaftlich mit den großen Architekten und Bildhauern im damaligen Florenz, besonders mit
Filippo Brunelleschi und Donatello, anzueignen weiß. In erster Linie steht unter den
Resultaten dieser Ausbildung sein neues Verständniß'der menschlichen Gestalt. Ihm ist es die
höchste Aufgabe, sie nach der Wirklichkeit zu studiren, dem Nackten gegenüber verschwindet die mittel-
alterliche Befangenheit. Die Gewandung fällt nicht mehr nach bestimmten Regeln, im Dienste
eines conventionellen Schwunges der Linien, sondern so, wie Formen und Bewegungen es mit sich
bringen. Neben den idealen Gewändern, die jetzt auf bestimmte heilige Figuren beschränkt bleiben,
findet auch schon das Zeitcostüm sich ein. Die Oertlichkeit ist nicht mehr blos andeutungsweise
charakterisirt, sondern wie die Menschen, so werden auch die landschaftlichen Fernen, Thal und
Berg, Gebäude und Straßendurchblicke, wie man sie wirklich sah, gegeben. Was dem Künstler
möglich macht, diese Aufgaben zu lösen, ist seine Kenntniß der Perspective und sein Verständniß für
den Gegensatz von Schatten und Licht. In der Linienperspective ahnt er die richtigen Grundsätze,
ohne es freilich in allen Fällen zu voller Correctheit zu bringen; er beginnt zugleich die Luftper-
spective zu beobachten und ist dadurch im Stande, die Gestalten wahrhaft zu modelliren, ihnen volle
Rundung zu verleihen. Gerade darin zeigt sich das Aufleben eines ächt malerischen Gefühls, das
er eben so wie in der Behandlung der einzelnen Gestalt, in der Anordnung, in dem Rhythmus der
Formen und Linien auch in der Farbe offenbart. Seine größte Eigenschaft ist aber jene überall
waltende Schlichtheit, die nie mit den Mitteln prunkt, sondern diese stets der Sache unterordnet.
So ist es allerdings der Realismus, der seine neue Richtung bestimmt, aber was ihn vor der
realistischen Richtung, wie sie die beiden van Eyck im Norden ausbilden, unterscheidet, ist seine
!Freiheit der wirklichen Erscheinung gegenüber. Er wählt sich den richtigen Abstand von dieser,
>so daß er sich nicht in das Einzelne verliert, sondern vor Allem das Ganze einheitlich überschaut.
!Und zugleich besitzt er jenen Schönheitssinn, durch welchen die italiänische Renaissance dem Alter-
thum verwandt ist; er ist fähig, jenen Adel und jene Hoheit der Form zu entfalten, durch welche er,
der Begründer des realistischen Stils in der italiänischen Malerei, zugleich der idealen Auffassung
eines Michelangelo und Raphael den Weg bahnt.
Merkwürdig ist namentlich die consequente Entwickelung vom Ahnen und Suchen bis zur
vollen Sicherheit, die man in den Fresken der Brancacci-Kapelle wahrnimmt. An ihren Eingangs-
Pfeilern stehen sich oben zwei Bilder, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies,
gegenüber. Die nackten Figuren auf dem erstern zeigen richtiges Streben, sind aber noch über-
schlank und befangen, auf dem zweiten tritt uns aber jene wundervolle Freiheit, jener Linienzug,
Erscheinung des Seelischen nur im Körperlichen möglich ist. Er erfaßt daher die religiösen Auf-
gaben in einem neuen Geiste. Das specifisch Heilige und Mysteriöse in denselben tritt zurück
das rein Menschliche wird betont. Nicht Andacht zu wecken ist sein erster Zweck, sondern die
Ereignisse als etwas Wirkliches hinzustellen. Durch seine Gestaltungskraft vermag er es, den
Figuren einer vorgestellten Welt Fleisch und Blut zu geben, sie in seine eigene Welt zu versetzen,
!die ihm die unmittelbaren Vorbilder für Charaktere und Handlungen liefert. Da finden wir statt
des allgemeinen Typus der Köpfe einen individuellen Ausdruck. Die Züge und Geberden sprechen
die bestimmte Handlung und Situation klar und erschöpfend aus. Nicht blos das Auge, welches
dies erkennt, besitzt Masaccio, sondern auch die Hand, die es sicher festzuhalten versteht. Seine
künstlerischen Fähigkeiten beruhen auf jener consequenten theoretischen Durchbildung, die er sich
gemeinschaftlich mit den großen Architekten und Bildhauern im damaligen Florenz, besonders mit
Filippo Brunelleschi und Donatello, anzueignen weiß. In erster Linie steht unter den
Resultaten dieser Ausbildung sein neues Verständniß'der menschlichen Gestalt. Ihm ist es die
höchste Aufgabe, sie nach der Wirklichkeit zu studiren, dem Nackten gegenüber verschwindet die mittel-
alterliche Befangenheit. Die Gewandung fällt nicht mehr nach bestimmten Regeln, im Dienste
eines conventionellen Schwunges der Linien, sondern so, wie Formen und Bewegungen es mit sich
bringen. Neben den idealen Gewändern, die jetzt auf bestimmte heilige Figuren beschränkt bleiben,
findet auch schon das Zeitcostüm sich ein. Die Oertlichkeit ist nicht mehr blos andeutungsweise
charakterisirt, sondern wie die Menschen, so werden auch die landschaftlichen Fernen, Thal und
Berg, Gebäude und Straßendurchblicke, wie man sie wirklich sah, gegeben. Was dem Künstler
möglich macht, diese Aufgaben zu lösen, ist seine Kenntniß der Perspective und sein Verständniß für
den Gegensatz von Schatten und Licht. In der Linienperspective ahnt er die richtigen Grundsätze,
ohne es freilich in allen Fällen zu voller Correctheit zu bringen; er beginnt zugleich die Luftper-
spective zu beobachten und ist dadurch im Stande, die Gestalten wahrhaft zu modelliren, ihnen volle
Rundung zu verleihen. Gerade darin zeigt sich das Aufleben eines ächt malerischen Gefühls, das
er eben so wie in der Behandlung der einzelnen Gestalt, in der Anordnung, in dem Rhythmus der
Formen und Linien auch in der Farbe offenbart. Seine größte Eigenschaft ist aber jene überall
waltende Schlichtheit, die nie mit den Mitteln prunkt, sondern diese stets der Sache unterordnet.
So ist es allerdings der Realismus, der seine neue Richtung bestimmt, aber was ihn vor der
realistischen Richtung, wie sie die beiden van Eyck im Norden ausbilden, unterscheidet, ist seine
!Freiheit der wirklichen Erscheinung gegenüber. Er wählt sich den richtigen Abstand von dieser,
>so daß er sich nicht in das Einzelne verliert, sondern vor Allem das Ganze einheitlich überschaut.
!Und zugleich besitzt er jenen Schönheitssinn, durch welchen die italiänische Renaissance dem Alter-
thum verwandt ist; er ist fähig, jenen Adel und jene Hoheit der Form zu entfalten, durch welche er,
der Begründer des realistischen Stils in der italiänischen Malerei, zugleich der idealen Auffassung
eines Michelangelo und Raphael den Weg bahnt.
Merkwürdig ist namentlich die consequente Entwickelung vom Ahnen und Suchen bis zur
vollen Sicherheit, die man in den Fresken der Brancacci-Kapelle wahrnimmt. An ihren Eingangs-
Pfeilern stehen sich oben zwei Bilder, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies,
gegenüber. Die nackten Figuren auf dem erstern zeigen richtiges Streben, sind aber noch über-
schlank und befangen, auf dem zweiten tritt uns aber jene wundervolle Freiheit, jener Linienzug,