Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0070
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
46

Tantalus damals genannt. In Goethe's Tagebüchern heißt
es den 14. September 1776: „Tantalus gelesen". Dieser
war der Held eines spottenden Gedichtes von Lenz, welcher
an der Weimaraner Hoftafel sich zu vertraulich benommen
und von ihr fortgewiesen worden war. Damals dachte Goethe
wohl kaum schon an eine Iphigenie? Mit Orest aber hatte
er sich auch oft genug schon verglichen. Denn auf ihm lastete
etwas wie auf diesem und wie der Stein, der Tantalus be-
drohte. Mit einem Kainszeichen schien Goethe sich umher-
zugehen, und erst Frau von Stein gab ihm die Ruhe wieder.
Hier liegeu vielleicht die ersten innersten Anfänge des
Schauspiels.
Iphigenie hat bis dahin Tantalus nicht genannt, auch
mit sich allein nicht. Sie hatte das alte Unheil vergessen. In
ihrem Gebete zu Diana erflehte sie endliche Heimkehr, um das
Familienglück der Ihrigen zu theilen. Die Erinnerung an
Tantalus war ihr nicht mehr drohend aufgestiegen. Während
Euripides' Tragödie Orest damit anhebt, daß Iphigeniens
Schwester Elektra von Tantalus und von den Verbrechen
seiner Familie erzählt, wird Iphigenie nicht wie diese von
diesen Gedanken unaufhörlich verfolgt. Erst als die Roth
sie dräugt, berichtet auch sie dem Könige von ihrem Ahnherrn
und den bösen Thaten ihres Geschlechtes. Kalt, wie ein
Richter eine Liste von Verbrechen abliest. Dieser furchtbaren
Thaten Erbin ist sie.
Könige aber sind daran gewöhnt, das Erschütterndste
ruhig zu veruehmen. Wir bewundern, wie Thoas sie durch
sachliche kurze Fragen unterbricht oder sie fortzufahren er-
muthigt, wo sie innehält, weil die Sprache ihr versagt, und
wie Iphigenie durch Betrachtungen, die sie einflicht, ihre Er-
 
Annotationen