81
ist, als habe sie keinen eigenen Willen mehr, den Gewalten
anheimgegeben, die sich ihrer bemächtigen wollen. In der
römischen Form dagegen ist sie wie der Präsident einer stür-
mischen Versammlung, der die Taktik der Parteien überschaut
und sein eigenes letztes Urtheil endlich in einer Rede dar-
bietet, in der er nach allen Seiten hin die sich bekämpfenden
Meinungen beurteilt. Dieser Gegensatz ist für die Darstellerin
Iphigeniens ein tiefeingreifender. Denn der Monolog enthüllt
Iphigeniens Seele: frauenhaftes Schwanken, verbunden mit
unbeugsamem Rechtsgefühl. Die Zartheit ihres Gefühls brachte
mit sich, daß sie von den sich ihr darbietenden Möglichkeiten zer-
rissen wird wie von Leidenschaften. Daß sie in abgetrennten
Sätzen von Einern zum Andern überspringend, wie zum
Wahnsinn getrieben wird. Und daß endlich dann, da sich ein
Ausweg bietet, das „Lied der Parzen" als erlösende Erin-
nerung über sie kommt und ihr die Ruhe wieder schenkt. In
der römischen Fassung verlieren diese Gegensätze nun an
Heftigkeit. Iphigenie überlegt. Das Lied der Parzen bildet
nur das letzte bestärkende Argument für eine Entscheidung,
die jetzt von Anfang an festzustehen scheint. Sobald wir den
Zweck der Bühnenaufftthrung vergessen und in Iphigenie nur
ein dramatisches Gedicht sehen, das gelesen werden soll, tritt
die römische Fassung jedoch in ihre Rechte.
In Euripides' Dichtung fehlt dieser innere Kampf. So-
bald Iphigenie sicher ist, daß Orest ihr Bruder und Pylades
Elektra's Gatte sei, tritt sie in deren Pläne ein. Mit den:
Götterbilde im Arme wendet sie sich unter ihrer Führung dem
Strande des Meeres zu, und sie entfliehen. Als Thoas dann
den verlassenen Tempel betritt, will er sie verfolgen, aber
Athene erscheint, und die Machtworte der Göttin halten ihn
Herman Grimm, Fragmente. 6
ist, als habe sie keinen eigenen Willen mehr, den Gewalten
anheimgegeben, die sich ihrer bemächtigen wollen. In der
römischen Form dagegen ist sie wie der Präsident einer stür-
mischen Versammlung, der die Taktik der Parteien überschaut
und sein eigenes letztes Urtheil endlich in einer Rede dar-
bietet, in der er nach allen Seiten hin die sich bekämpfenden
Meinungen beurteilt. Dieser Gegensatz ist für die Darstellerin
Iphigeniens ein tiefeingreifender. Denn der Monolog enthüllt
Iphigeniens Seele: frauenhaftes Schwanken, verbunden mit
unbeugsamem Rechtsgefühl. Die Zartheit ihres Gefühls brachte
mit sich, daß sie von den sich ihr darbietenden Möglichkeiten zer-
rissen wird wie von Leidenschaften. Daß sie in abgetrennten
Sätzen von Einern zum Andern überspringend, wie zum
Wahnsinn getrieben wird. Und daß endlich dann, da sich ein
Ausweg bietet, das „Lied der Parzen" als erlösende Erin-
nerung über sie kommt und ihr die Ruhe wieder schenkt. In
der römischen Fassung verlieren diese Gegensätze nun an
Heftigkeit. Iphigenie überlegt. Das Lied der Parzen bildet
nur das letzte bestärkende Argument für eine Entscheidung,
die jetzt von Anfang an festzustehen scheint. Sobald wir den
Zweck der Bühnenaufftthrung vergessen und in Iphigenie nur
ein dramatisches Gedicht sehen, das gelesen werden soll, tritt
die römische Fassung jedoch in ihre Rechte.
In Euripides' Dichtung fehlt dieser innere Kampf. So-
bald Iphigenie sicher ist, daß Orest ihr Bruder und Pylades
Elektra's Gatte sei, tritt sie in deren Pläne ein. Mit den:
Götterbilde im Arme wendet sie sich unter ihrer Führung dem
Strande des Meeres zu, und sie entfliehen. Als Thoas dann
den verlassenen Tempel betritt, will er sie verfolgen, aber
Athene erscheint, und die Machtworte der Göttin halten ihn
Herman Grimm, Fragmente. 6