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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0114
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Nur ein paar Augenblicke aber des Besinnens bedarf es.
Nun das großartige Vekenntniß der vollen Wahrheit. Eine
Erzählung von vierzig Versen, ein von glühender Leidenschaft
angehauchter Bericht all' dessen, was geschehen ist, und was
sie und ihr Bruder und ihr Freund weiter zu vollenden im
Sinne tragen. Und in dieser Rede die Frage, die Thoas
am tiefsten treffen mußte und, wie seine kurze Antwort zeigt,
getroffen hatte:
Muß ein zartes Weib
Wild gegen Wilde sein?
Was der König nun sagt, ist wieder ein Zeichen, wie
bitterlich tief er Iphigenie verstand, wie genau er aber auch
Antwort zu geben wußte:
Du glaubst, es höre
Der rauhe Skythe, der Barbar, die Stimme
Der Wahrheit nicht und Menschlichkeit, die Atreus,
Der Grieche, nicht vernahm?
Atreus, Iphigeniens Vorfahr, der seinem Bruder dessen
eigene Kinder als Speise vorsetzte!
Nun aber. So tief Iphigenie den König dadurch ver-
letzt, daß sie ihn beinahe als untergeordnete Persönlichkeit be-
handelt, so hoch ehrt sie ihn durch ihr Vertrauen zu ihm.
An Alles, was sie Edles und Gutes in Thoas erkannt hat,
appellirt sie. Wahrheit sollte herrschen zwischen ihnen. Ja,
sie hätten ihn und sein Volk um das Bild der Göttin be-
trügen wollen. So rückhaltslos sich selbst anklagen konnte
sie nur einem Manne gegenüber, von dem sie völlig verstanden
lvard. Sie spricht zu ihm als zu ihrem besten Freunde, und
Thoas hört sie so an. Diese Ueberzeugung verleiht ihren
Worten das Siegreiche. Es ist, als lese sie in des Königs
Seele. Und nun doch noch ein unvermutheter neuer Gedanke.
 
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