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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Hrsg.]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0162
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niedergeschriebene Erinnerung den Lebensmomenten von Leuten
jeder Lebensstellung setzt, zum Glauben gebracht worden, in
solchen Documenten ausreichendes Material zu besitzen, um
die Entwicklungsgeschichte Weimars, seiner Fürsten und seiner
bedeutenden Männer und Frauen in Goethe's Zeitalter klar
zu stellen. Wir vergessen, daß die entscheidenden Haupt-
momente aller historischen Ereignisse stets doch nur von
Wenigen in auskunftwürdiger Art erlebt und von diesen
nicht niedergeschrieben worden sind. Wir wissen von diesen
intimsten Momenten persönlichen Verkehrs, wo das Entschei-
dende empfunden, gedacht, ausgesprochen und geformt wurde,
nicht mehr als die Naturforscher von der geheimen forterhal-
tenden und fortzeugenden Kraft, ohne die was wir Leben
nennen nicht zn denken ist. Und deshalb hat der Geschicht-
schreiber immer die Berechtigung, sein eigenes Gefühl als die
vornehmste letzte Beweiskraft für die Beurtheilung der Men-
schen und der Ereignisse anzusehen. Ohne Anwendung dieser
Machtvollkommenheit bleiben uns die Personen Conglomerate
hell und dunkel mechanisch znsammenwirkender geistiger Be-
wegung. An meine gestaltende Phantasie appellire ich, wenn
ich mir ein Bild der Herzogin Anna Amalia mache, welche
die Mutter dessen gewesen ist, was Weimar als Centrnm
geistiger Bewegung später verherrlichte. Bei Beurtheilung
des Naturells dieser Fürstin gehe ich auf Friedrich's II. Cha-
rakter zurück, bei dem eiue Mischung unbefangenen momen-
tanen Lebensgenusses, tief grabender, trüber Lebenserfahrung
und kalt durchgeführter, unerschütterlicher Willensbethätigung
im gleichen Bette neben einander herströmten. Anna Amalia
hatte Unerträgliches in jungen Jahren dnrchgemacht, ihr an-
geborenes Capital an Lebensfreudigkeit aber unvermindert
 
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