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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Hrsg.]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0341
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anzulangen), und deren unsichtbare Leser, während sie unter-
wegs waren, Niemand kannte. Ueber jedem dieser Briefe
schwebte ein ungeschriebener zweiter Brief, dessen Inhalt vom
Empfänger nur verstanden wurde. Auf Grund solcher Briefe
vermögen wir in die persönliche Lebensführung Derer nicht
einzudringen, die wir zum Gegenstände historischer Unter-
suchungen machen.
Um die äußeren und inneren Schicksale Leopardi's ist
letzter Tage ein Kampf entbrannt. Nicht mehr im Stande,
im väterlichen Hause auszudauern, hatte der Dichter, da seine
Heimath ihm unerträglich dünkte, bei feinem Freunde Ra-
nieri in Neapel Unterkunft gefunden. In einem jener kahlen
Paläste, von denen die Stadt voll ist, wird Leopardi's Zim-
mer, in dem er bei Ranieri lebte und starb, heute noch ge-
zeigt. Dieser Ranieri, der seinen Gast in Neapel begrub und
ihm einen Grabstein fetzte, auf dem er sich feinen besten
Freund nennt, nahm Leopardi's Papiere an sich, gab jene
obengenannten vier Bände Gedichte, Briefe und Schriften
heraus und vermachte die Gesammtheit dieses geistigen Nach-
lasses der Nationalbibliothek zu Neapel. Nun aber ereignet
sich etwas Seltsames. Derselbe Mann, der in feiner Bio-
graphie Leopardi's ein ideales Bild des Dichters gewährt,
gibt ini eigenen hohen Alter weitere Nachrichten über ihn in
den Druck, die ihn, wie behauptet wird, in anderer Gestalt
zeigen. Und zugleich verfügt Ranieri, daß die in seinem Be-
sitze verbliebenen Handschriften Leopardi's nicht eher der
Nationalbibliothek in Neapel überliefert werden dürfen, als
bis zwei Frauen, dienende Frauen in seinem Hause, gestor-
ben find, die, ohne selbst den Werth dieser Blätter zu be-
greifen, sie nur den Blicken Jedermanns verbergen sollen.
 
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