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Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Hrsg.]; Assmann, Jan [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

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https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0164
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Schöpfungsmythen und Kreativitätskonzepte im Alten Ägypten

VON JAN ASSMANN

Vorbemerkungen

Die Frage nach der Entstehung der Welt gehört zu den Urfragen der Mensch-
heit. Es gibt gewiss keine Mythologie auf Erden, in der diese Frage nicht
einen zentralen Rang einnähme. Schöpfungsmythen sind archaische Welt-
modelle. Die heutige Wissenschaft produziert ebenfalls Weltmodelle, aber
nicht mehr in der Form von Erzählungen, sondern von Begriffen und For-
meln. Die heutigen Weltmodelle erheben den Anspruch, eine wesentlich
größere Menge empirischer Daten zu integrieren als die mythischen Erzäh-
lungen, aber das bedeutet nicht, dass nicht auch die Mythen empirische
Daten integrieren und den Status von Weltmodellen beanspruchen. In
Schöpfungsmythen verständigte sich der frühe Mensch über den Aufbau der
Wirklichkeit und seinen eigenen Platz in ihr. Schöpfungsmythen artikulie-
ren daher das Welt- und Menschenbild früher Gesellschaften. Sie haben
einen explanatorischen Bezug zur Wirklichkeit.1

In den Schöpfungsmythen der Völker spiegeln sich Konzepte menschli-
cher Kreativität. Hinter der Idee einer Schöpfung durch das Wort und der
Sprachförmigkeit (oder „Lesbarkeit") der Welt steht z.B. das Bewusstsein
von der Schöpfermacht der Sprache.2 Jean Francois Lyotard hat diesen Zu-
sammenhang zwischen Schöpfungsvorstellung und Kreativitätsbegriff noch
am Beispiel der romantischen Genie-Ästhetik demonstriert: „Der Begriff der
künstlerischen Schöpfung kommt aus der romantischen Ästhetik, aus der
Ästhetik des Genies. Allerdings werden Sie mit mir übereinstimmen, dass
die Vorstellung eines Schöpfers heute ein bisschen veraltet ist."3 Wenn in
Ägypten die Tätigkeit des Schöpfers vor allem als eine Ausübung von Herr-
schaft gedacht wird, äußert sich darin das Menschenbild einer Gesellschaft,
die den ersten Großstaat der Geschichte geschaffen hat. In „demiurgischen"

1 Hönigswald, Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen.
1 A Assmann, Die Legitimität der Fiktion; H. Blumenberg, Die Lesbarkeil der Welt.
3 Immaterialgut und Postmoderne, 63.
 
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