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Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Hrsg.]; Assmann, Jan [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

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https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0196
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Kreativität und Schrift in China

VON LOTHAR LEDDEROSE

Prolegomena

„In principio creavit Deus coelum et terram - Am Anfang schuf Gott Him-
mel und Erde." Creavit lautet das erste Verb im ersten Satz des meistgelese-
nen und wirkungsmächtigsten Buches in der Geschichte des Abendlandes.
Die Schöpfung von Himmel und Erde durch Gott ist uns Kreativität
schlechthin.

Von China aus gesehen erscheinen drei Aspekte an diesem Kreativitäts-
begriffais nicht selbstverständlich, vielleicht aber als typisch abendländisch:
erstens wird der Akt der Schöpfung von einem einzelnen vollbracht; er hat
einen Namen. In diesem Fall ist es Gott. Zweitens findet die Schöpfung zu
einem bestimmten Zeitpunkt statt; hier ist es der Anfang. Und drittens han-
delt es sich - zumindest laut der seit Augustinus allgemein akzeptierten In-
terpretation des Satzes - um ein creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem
Nichts. Erst durch den Schöpfungsakt gewinnen Himmel und Erde Existenz;
davor existierten sie in keiner Form. Dabei widerspricht die Idee einer crea-
tio ex nihilo jeder menschlichen Erfahrung. Niemand ist je Zeuge einer sol-
chen Art von Hervorbringung gewesen. Doch gerade seine Unfassbarkeit hat
diesem kühnen Entwurf die immense Faszination verliehen, welche seit zwei
Jahrtausenden das westliche Denken über Kreativität mitgeprägt hat, von
Dichtern und Malern, von Naturwissenschaftlern und Politikern.

Anders in China. Bemerkenswerterweise findet sich in chinesischen klas-
sischen Büchern keine Kosmogonie. Himmel und Erde waren von jeher da.
Sie wurden nicht von einem Schöpfergott und auch nicht zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt erschaffen. Eine creatio ex nihilo ist dem chinesischen Denken
fremd. Das klassische Wort für Schöpfung, zaohua, besteht aus zwei Kom-
ponenten, zao, machen, und hua, verwandeln. Kreativität ist hier als Ver-
wandlung von etwas schon Bestehendem gedacht. Menschliche Kreativität
wird in China oft in Analogie zur Kreativität der Natur beschrieben. Sie wird
dann als ein Prozess verstanden, der sich über lange Zeiten hinziehen kann,
 
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