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Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Hrsg.]; Assmann, Jan [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

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https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0197
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190 Lothar Ledderose

an dem viele Individuen teilhaben, und der auch Massenhaftigkeit der Pro-
duktion einschließt.

Dies alles sind natürlich plakative Feststellungen. Die Vorstellung von
Kreativität als Prozess gibt es auch im Abendland, und auf der anderen Seite
ist China der Gedanke des einmaligen und individuellen kreativen Aktes
keineswegs fremd. Es handelt sich also nicht um Phänomene, die sich gegen-
seitig ausschließen, als vielmehr um eine verschiedene Ausformung und
Gewichtung derselben.

Das möchte ich im Folgenden an Beispielen aus der chinesischen Schrift
konkretisieren und augenfällig machen. Ich wähle die Schrift als die ty-
pischste Leistung der chinesischen Kultur, der wenig Vergleichbares aus an-
deren Weltkulturen an die Seite zu stellen ist. Die Schrift wurde seit dem
späten 2. Jahrtausend v. Chr. entwickelt und ist mit ihren an die fünfzigtau-
send unterscheidbaren Zeichen wahrscheinlich das komplexeste System von
Formen, welches die Menschheit in vormoderner Zeit hervorgebracht hat.
Seit etwa zweitausend Jahren öffnet die Beherrschung der Schrift auch den
Weg zu sozialem Rang und politischer Macht in China. So gut wie alle Mit-
glieder der gebildeten Schicht verwandten mehrere Jahre ihre Jugend in
strenger Disziplin darauf, schreiben zu lernen, und praktizierten dann die
Schrift ununterbrochen während ihres ganzen Lebens. Das heute noch von
über einer Milliarde Menschen tagtäglich benutzte Schriftsystem ist der
Kern der chinesischen Kultur und setzt einen Maßstab für alles, was je in
China geschaffen wurde. Es kann deshalb auch als ein Paradigma für Kreati-
vität in China gelten.

Schrift und religiöse Offenbarung

Religiöse Offenbarung vollzieht sich in China typischerweise im Medium der
Schrift. Ein aufschlussreicher Fall sind die sogenannten Maoshan-Texte, die
einem daoistischen Heiligen namens Yang Xi (330-? n. Chr.) geoffenbart
wurden. Des Nachts besuchten ihn Feen und zeigten ihm Schriften, die der
Seher in einer ekstatischen Kursivschrift abschrieb. Am nächsten Morgen
kopierte er seine eigenen in Trance hingeworfenen Manuskripte säuberlich
in Standardschrift, und in dieser Gestalt wurden die Texte dann den Gläubi-
gen bekannt gemacht und tradiert. Seine medialen Fähigkeiten setzten Yang
Xi in Stand, die von den Feen mitgebrachten Schriften zu lesen. Normale
Sterbliche konnten überirdische Schrifttypen wie die „Strahlen der Wolken-
siegel" nicht verstehen. Doch waren die dem Yang Xi gezeigten Schriften ih-
rerseits schon Derivate von Texten, die von jeher in einer noch höheren,
primordialen Sphäre existieren. Die Kreativität des Sehers bestand also dar-
in, dass er etwas Bestehendes verwandeln konnte. Er transponierte Texte aus
 
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