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Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Hrsg.]; Assmann, Jan [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

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https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0198
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Kreativität und Schrift in China 191

einem Schrifttyp in einen anderen und machte sie damit den Menschen zu-
gänglich.'

An Yang Xis Manuskripten erweist sich ein bemerkenswerter Begriff von
Originalität. Er weicht von dem im Abendland insbesondere seit dem 18.
Jahrhundert forcierten Begriff des Originals ab, welcher die Einmaligkeit
und Unversehrtheit des Werkes einschließt und in einem kategorialen Ge-
gensatz zur Kopie steht.2 Die den Gläubigen präsentierten Originalmanu-
skripte des Yang Xi hingegen waren bereits Kopien von dessen eigenen
Tranceschriften, und diese wiederum waren Kopien von Kopien von pri-
mordialen Schriften. Die tradierten Werke des heiligen Sehers stellten also
nicht den Anfangspunkt einer Überlieferung dar, sondern markierten viel-
mehr nur das Stadium, in dem eine nach vorne und hinten nicht begrenzte
Traditionsline in die Materialität hineingleitet.

Schreiben in Trance ist in China weit verbreitet und wird auch heute noch
praktiziert, wie Abbildung 1 zeigt. Das Medium hält einen, mit einem nach
unten weisenden Sporn versehenen Holzstab, mit dem es in heftiger Agita-
tion in den Sand Zeichen schreibt, die es vor seinem inneren Auge sieht.

Der in Abbildung 2 illustrierte Buchdeckel zeigt Papst Gregor den Großen
an seinem Schreibpult. Er hört, was ihm die Taube des Heiligen Geistes auf
seiner Schulter ins Ohr diktiert.3 Das Medium dieser Offenbarung ist das
Wort. Gregor schreibt nicht einen bereits bestehenden Text ab, vielmehr
schafft er mit seiner Niederschrift erst eine visuell erfassbare Gestalt für das
gesprochene Wort Gottes. Das Evangelium des Johannes beginnt bekannt-
lich mit dem Satz: „In principio erat Verbum - im Anfang war das Wort,"
und fährt dann fort: „et Verbum erat apud Deum, et Deus erat Verbum -
und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." Noch eindeutiger lässt
sich der Primat des Wortes in der abendländischen Tradition nicht formu-
lieren.4 Ein entsprechender Satz in China, wenn es ihn denn gäbe, müsste ei-
gentlich heißen: „Im Anfang war das Schriftzeichen."

Dazu Ledderose, Lothar, „Some Taoist Elements in the Calligraphy of the Six Dynasties."
T'oung Pao 70 (1984), S. 246-78.

In einem kritischen Aufsatz arbeitet Kristeller die Bedeutung von Tradition versus Origina-
lität in der abendländischen Geistesgeschichte heraus. Cf. Kristeller, Paul Oskar,
,„Creativity' and .Tradition'". Journal ofthe History ofldeas 44 (1983), S. 105-113. Nachdruck
in idem, Renaissance Thought and the Ans, Collected Essays. Princeton: Princeton Universi-
ty Press, 1990, S. 247-258.

Illustration in Belser Stilgeschichte, Studienausgabe in 3 Bänden, Bd. 2, Mittelalter. Stuttgart:
Belser Verlag, 1999, Abb. 227.

Jacques Derrida diskutiert die Logozentrik der abendländischen Kultur u.a. in De la gram-
matologie. Paris: Editions du Seuil, 1967, und in L'Ecriture et la diffirence. Paris: Editions du
Seuil, 1967. Für eine Kritik logozentrischer Kunstgeschichtsschreibung siehe Donald Prezio-
si, Rethinking Art History. Meditations on a Coy Science. New Haven and London: Yale
University Press, 1989, S. 44-53. Ich danke Doris Croissant für den Literaturhinweis.
 
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