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Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Editor]; Assmann, Jan [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0262
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Selbsterschaffene Personen 255

committed those Actions, and deserve that Punishment for them."23 Jeder
„shall receive his Doom, his conscience accusing or excusing him."24

Es ist also die Gegenwart des göttlichen Jenseitsgerichts, vor der sich nach
Locke die wahre Identität der Person enthüllt.25 Seine Konstruktion persona-
ler Identität hängt freilich noch in einem weiteren Sinne von der Vorausset-
zung eines externen Gottes ab, auch wenn diese nicht ganz ausdrücklich
wird: Nicht erst die Erkenntnis der wahren Identität, sondern dass Personen
überhaupt Identität im Sinne einer „eigenen" Vergangenheit von selbstver-
antworteten Handlungen entwickeln, aus denen sich eine bestimmte Gegen-
wartswahrnehmung und eine Zukunftsperspektive ergibt, gründet im Locke-
schen Kontext auf dem Glauben an Gott. Denn personale Identität konstituiert
sich im ständigen Prozess der Aneignung der eigenen Handlungen in der
Sorge um das zukünftige Glück, und das heißt besonders: das ewige Seelen-
heil. Entsprechendes gilt auch für die Moral überhaupt: „[TJhe true ground
of all morality [...] can only be the will and Law of a God, who sees Men in
the dark, has in his hands Rewards and Punishments, and Power enough to
call to account the Proudest Offender." Eben hieraus, nämlich aus dem Vor-
rang des religiösen Gewissens vor weltlich-politischen Belangen, ergibt sich
auch das berühmte Locke'sche Toleranzrecht des Einzelnen gegenüber dem
Staat. Denn da von der Befolgung der göttlichen Gebote das ewige Seelenheil
abhängt, hat diese Aufgabe für ihn unbedingte Priorität vor allen anderen An-
gelegenheiten, insbesondere auch vor jedem öffentlichen Recht26: „Obedience

23 lohn Locke (1979), Buch II, Kap. XXVII, § 26, S. 247.

24 (ohn Locke (1979), Buch II, Kap. XXVII, § 22, S. 344.

25 Wenn man diesen Kontext nicht berücksichtigt, ergibt seine entsubstanzialisierte Theorie
personaler Identität als Produkt bewusster Selbstzuschreibung keinen Sinn. Denn in wel-
chen weitlichen Angelegenheiten würden wir allein auf die Selbstwahrnehmung und Erin-
nerung der betroffenen Person bauen, wenn es um die Zuschreibung von Handlungen gin-
ge? Wer sich an seine Tat aufgrund nachträglicher Trunkenheit nicht mehr erinnern kann,
wird deswegen vor Gericht nicht freigesprochen, wie es schon Lockes Freund Molyneux in
einer bekannten brieflichen Auseinandersetzung gegen Locke einwandte. Vor dem göttli-
chen Gericht hingegen (und dies gilt offenbar nicht nur für die christliche, sondern für die
meisten Vorstellungen von Jenseitsgericht in den Weltreligionen: man denke an das Wie-
gen des Herzens in der ägyptischen Tradition) spielt das Zeugnis Dritter keine Rolle, weil
Betrug nicht möglich scheint.

26 Freilich kann Lockes „utilitaristische" Herleitung des Staats aus den Bedürfnissen Annah-
me freier und gleicher Individuen, die zum Schutz ihrer selbst und ihrer Güter einen Ge-
sellschaftsvertrag eingehen, auch unabhängig von seinem religiösen Hintergrund begriffen
werden - was ja auch geschehen ist. Auch sie setzt aber eine Verpflichtung der Individuen
gegenüber Gott voraus, nämlich die Pflicht zur Selbsterhaltung. Vgl. Locke (i960); Second
Treatise, § 13, S. 294. Seine eher utilitaristische Einstellung gegenüber dem Staat steht aber
in engem Zusammenhang mit der christlichen Religion, nämlich der „Verlegung aller
wahrhaften Lebenswerte in das religiöse Gebiet." Und wie Ernst Troeltsch gezeigt hat, geht
der asketische Protestantismus hier sehr viel weiter als der Katholizismus und das Luther-
tum. Vgl. Troeltsch (1961), S. 953-
 
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