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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0016

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4 Klaus Kempter

II Dietrich Schwanitz und die Re-Kanonisierung der Bildung

Ohne Zweifel ist Dietrich Schwanitz' Buch „Bildung - Alles, was man wissen
muss" aus dem Jahr 1999 sowohl ein symptomatisches Zeugnis als auch einer
der frühen Höhepunkte der jüngeren Bildungsdebatte. Schwanitz legte mit iro-
nischem Augenzwinkern ein Kompendium vor, das zum einen eine Beschrei-
bung und Diagnose der aktuellen Bildungsmisere, zum anderen eine entspre-
chende Therapie und deren Medikamente bot. Dabei bemühten Beschreibung
und Diagnose die bekannten Topoi des konservativ-kulturpessimistischen Dis-
kurses. Schwanitz' Gesichtspunkte waren die folgenden:

Die Bildungsinstitutionen hätten nach der 68er Kulturrevolution, deren li-
beralisierende Wirkungen ein Ironiker wie Schwanitz durchaus anerkennen
konnte, auf die Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem verzichtet:
„Die Schule ist zum Prinzip des Tauschhandels zurückgekehrt. Deutsch kann
durch Sport ausgeglichen werden, Mathematik durch Religion."5 Verunsiche-
rung, Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit seien die Hauptmerkmale des re-
formierten Bildungswesens. Der Versuch, Chancengleichheit herzustellen und
mit den Mitteln des Bildungssystems Klassengegensätze zu bekämpfen, habe
zur inflationären Vermehrung von höheren Bildungsabschlüssen und von gu-
ten Noten geführt; „inflationär" im buchstäblichen Sinn, denn der Wert der
Abschlüsse und Zensuren sank stetig. Modischer didaktischer Firlefanz wie
fächerübergreifender Projektunterricht, aber auch dem Demokratisierungspa-
thos der (Post-)Achtundsechziger geschuldete Strukturexperimente wie neue
Schulverfassungen und allerhand Mitbestimmungsmodelle hätten die Schulen
in die Krise getrieben. Und schließlich seien aufgrund einer weitgehenden
Erziehungsabstinenz der Elternhäuser den Schülern die Maßstäbe des guten
Benehmens vorenthalten worden, so dass die Lehrer an deren Erziehung fast
zwangsläufig scheitern müssten. Am bedenklichsten fand Schwanitz aber die
Zerstörung des alten „Bildungskanons". Weil er „verengt und überholt er-
scheint, hat man Normen überhaupt aufgegeben." 6

Schwanitz blieb nun nicht bei dieser Klage stehen, sondern er bot seine Mit-
hilfe bei der (Re-)konstruktion eines solchen Kanons an, ja, er fächerte ihn in
seiner ganzen Breite aus und legte so dar, was man heutzutage wissen muss, um
als gebildet zu gelten. Dieser Kanon stützte sich auf zwei tragende Hauptsäulen,
die Geschichte und die Literatur, und einige etwas dünnere Pfeiler, nament-
lich Kunst und Musik sowie die großen philosophischen, ideologischen oder
wissenschaftlichen Weltbilder. Schwanitz' Katalog ist somit ganz und gar histo-
risch, und mehr als das: chronologisch orientiert - schließlich sah er sich selbst
in erster Linie als Kulturhistoriker und dokumentierte dies mit einer groß an-
gelegten „Englischen Kulturgeschichte" 7. Deutsche und europäische Bildung

5 Schwanitz 1999,24.

6 Ebd., 27.

7 Schwanitz 1995b.
 
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