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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0048

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36 Volker Lenhart

Zweite Bedingung der Bildung ist die Mannigfaltigkeit der Lebenserfah-
rungen. Hier ist Humboldt, der über viele Jahre seines Lebens hinweg das
Projekt der Ausarbeitung einer vergleichenden Anthropologie auf empirisch-
spekulativer Grundlage verfolgt, durchaus unkantianisch. Es geht ihm nicht
um die Möglichkeit von Erkenntnis a priori, sondern um Erfahrungswissen.
Wissen ist im Bildungsvorgang aber nur eine Komponente. Sie geht ein in den
weiteren Begriff der (Selbst-)Tätigkeit und Wirksamkeit. „Im Mittelpunkt aller
besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf
irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken
und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die
blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blos-
se Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend,
fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt ausser sich."12 Mit
der Selbsttätigkeit hängt auch der Begriff des Genusses zusammen, der in
Humboldts Werk immer wieder auftaucht. Genuss ist nicht in erster Linie die
Empfindung physischen Wohlbehagens, etwa in der Erotik, die der Tegeler Ari-
stokrat durchaus pflegte. Genuss meint, aus der situativen Lebenswelt das zur
eigenen Selbstvervollkommnung Dienliche auszulesen und sich zu Eigen zu
machen. Gedacht ist nicht an passive, sondern aktive Anteilnahme. Das gilt
besonders für ästhetische Kulturwerte. Das Gegenüber, mit dem in Austausch
der Mensch sich bildet, bestimmt Humboldt als „Welt". Dabei interessiert ihn
weniger die äußere Natur, die physische Welt. Ihm geht es um die soziale und
vor allem die kulturelle (Mit-)Menschenwelt. So sind für ihn Familie, Gemein-
schaft und Nation ebenso wie Wissenschaft, Kunst, Geschichte, Griechentum,
Zeitgeist, Persönlichkeitsbilder und Sprache bildende Welt.13

Bildung erfüllt sich in einem Ganzen. Der Ganzheitsbegriff Humboldts ist
im Gegensatz zu dem aktuellen der Ganzheitlichkeit unökologisch. Die unbe-
lebte, ja auch außermenschliche belebte Natur rückt nicht in den Fokus der Auf-
merksamkeit. Das Ganze der zu vollendenden Menschenbildung wird vielmehr
gefasst als Ineinander ausgeprägter Persönlichkeit, Individualität, profilierten
Charakters mit dem „Geist der Menschheit", der Humanitas als den Vervoll-
kommnungspotenzen und -aktualisierungen der menschlichen Existenz. „Die
letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person,
sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus,
durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so gros-
sen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch
die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und
freiesten Wechselwirkung."14

12 Humboldt, Werke I, i960,235.

13 Menze 1965,140.

14 Humboldt, Werke I, i960,235t
 
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