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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0106

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94 Otfried Hoffe

Weltgerechtigkeitssinn zu jenem Gefühl der Billigkeit gegen andere Nationen,
das Johann Gottfried Herder (1744-1803) in den „Briefen zur Beförderung der
Humanität" verlangt (119. Brief: Werke VII, 723): dass jede Nation „sich an
die Stelle jeder anderen fühle" und „den frechen Übertreter fremder Rechte"
ebenso „hasse" wie „den kecken Beleidiger fremder Sitten und Meinungen,
den prahlenden Aufdringer seiner eigenen Vorzüge an Völker, die diese nicht
begehren."

IV Demokratische Bildungsinstitutionen

Der Kern der Bildungseinrichtungen liegt in den Schulen und Hochschulen
sowie deren Verwaltung, dabei nicht nur den öffentlichen, auch den priva-
ten Schulen und Hochschulen. Selbst für religiöse Schulen wie etwa Koran-
schulen haben daher liberale Demokratien eine gewisse Zuständigkeit. Selbst-
verständlich greifen sie nicht in die Religion selbst, zumal ihre dogmatische
und spirituelle Seite, ein. Religion darf sogar die Demokratie wie die ge-
samte „diesseitige Welt" relativieren, sie aber keineswegs opponieren. Statt-
dessen muss sie „auf dem Boden der Verfassung" stehen und sowohl ihren
Lehräußerungen als auch in der Art des Umgangs die Grundwerte einer libe-
ralen Demokratie anerkennen. Wegen neuerer Gefährdungen seitens mancher
Einwanderer muss man es betonen: Dazu gehört die Gleichberechtigung von
Mann und Frau, aber nicht notwendigerweise gehören auch gleiche Rechte
in gottesdienstlichen und ähnlichen Ämtern dazu. Die Entscheidung, ob auch
Frauen Rabbiner, Priester oder Koranvorbeter werden dürfen, liegt allein bei
den Religionsgemeinschaften.

Die Frage, warum Religionsgemeinschaften sich den Grundwerten einer
liberalen Demokratie unterwerfen sollen, lässt sich mit drei Argumentati-
onsstrategien beantworten. Die erste Strategie beruft sich auf das legitime
Eigeninteresse des Gemeinwesens, auf Selbsterhaltung; auch liberale Demo-
kratien sind auf die Anerkennung durch nachwachsende Bürger angewiesen.
Die ergänzende zweite Strategie betont die nicht kulturspezifische, sondern
universale Gültigkeit der demokratischen Grundwerte. Und im Vorübergehen
beantwortet sie auch die Frage, warum die Erziehung von Kindern und Ju-
gendlichen der liberalen Demokratie dienen soll. Die Antwort: Weil im Mit-
telpunkt der Werte liberaler Demokratie der einzelne, aber nicht der verein-
zelte Mensch steht, beläuft sich die entsprechende Erziehung nicht auf eine
Instrumentalisierung für das Gemeinwesen, im Gegenteil dient dieses primär
seinen Bürgern. Die dritte, erneut komplementäre Strategie erinnert an die
kulturübergreifende Gültigkeit der Goldenen Regel: Wie die religiösen Bil-
dungseinrichtungen vonseiten des Gemeinwesens Religionsfreiheit und Reli-
gionssicherheit erwarten und mit ihnen nur wegen der demokratisch-liberalen
Verfassung rechnen können, so müssen sie ihrerseits die Grundwerte liberaler
Demokratie anerkennen. Andernfalls werden sie zu deren Trittbrettfahrern,
was jeder Gerechtigkeit widerspricht.
 
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