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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0111

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„Wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann" 99

als einer Praxis gemeinsamen Lebens die Wahrnehmung der religiösen Di-
mensionen in Bildungsprozessen eine tragende Rolle. Sowohl das Verständnis
der weltpolitischen Veränderungen wie auch das Verständnis der eigenen kul-
turellen Basis erfordert die kritische Erforschung der religiösen Gehalte, zu
denen die Theologie in ihrer Ausrichtung auf die religiöse Gegenwartslage
einen wesentlichen Beitrag liefert. Die Bedeutung christlicher Religion ist in
diesem Zusammenhang nur unzureichend erfasst, wenn man diese allein auf
die bloße Faktizität der christlichen Prägung der abendländischen Kultur in
der Geschichte bezieht. Denn die religiöse Tradition ist nicht nur ein wesent-
licher Bestandteil unserer kulturellen Tradition, sondern auch der Gegenwart
demokratischen Kultur, wie Jürgen Habermas seit langem betont und in sei-
ner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein-
drücklich wiederholte.7 Habermas formuliert pointiert: Er glaube nicht, „daß
wir als Europäer Begriffe wie Moralität und Sittlichkeit, Person und Individua-
lität, Freiheit und Emanzipation - die uns vielleicht noch näher am Herzen
liegen als der um die kathartische Anschauung von Ideen kreisende Begriffs-
schatz des platonischen Ordnungsdenkens - ernstlich verstehen können, ohne
uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Her-
kunft anzueignen."8 Damit ist die anstehende Bildungsaufgabe benannt, die
auch Folgen für die Kontur religiöser Bildungsprozesse haben muss: Welche
Bedingungen müssen gegeben sein, um das für die demokratische Kultur un-
verzichtbare semantische Potential der religiösen Traditionen zu erschließen?
Und weiter ist mit Habermas zu fragen: Wie kann gemeinsames und demo-
kratisch ausgerichtetes Leben funktionieren, damit „nicht noch der Rest des
intersubjektiv geteilten Selbstverständnisses, welches einen humanen Umgang
miteinander ermöglicht, zerfallen soll. Jeder muss in allem, was Menschenant-
litz trägt, sich wiedererkennen können." 9

Ist mit der Benennung ihrer kulturbildenden und für demokratische Ge-
sellschaften konstitutiven Bedeutung gleichsam nur die Außenseite des christ-
lichen Glaubens benannt, so verweist sie doch auch auf sein Zentrum, dass
Glaube sich in den öffentlichen Diskurs hineinbegeben kann und will und sich
so im Kontext der Suche nach dem gemeinsamen und guten Leben erkennbar
machen kann. Der Religionspädagoge Dietrich Zilleßen bringt das prägnant
zum Ausdruck: „Gott sei Dank sind Gott und die Welt ineinander verwickelt."10
Die Debatte um die Grundlagen unserer Kultur macht christliche Religion in
öffentlicher Perspektive erkennbar; das Christentum setzt sich der Welt kri-
tisch aus und bringt die sie tragenden Optionen kritisch in das Gespräch um
die Ausgestaltung sozialer Wirklichkeit ein.

g Die Rede ist abgedruckt in Habermas 2001.
Habermas 1988a, 23.

9 Ebd.

10 Zilleßen/Gerber 2001,15.
 
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