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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0112

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ioo Ingrid Schoberth

Dietrich Bonhoeffer hat eben dies in seinen Briefen aus der Gefangen-
schaft als „nicht-religiöse Interpretation" der biblischen Tradition bezeichnet,
was sich gerade nicht gegen Religion als gelebte Gestalt christlichen Glau-
bens richtet, sondern gegen die religiöse Überhöhung der Welt, die gleichzeitig
den Glauben zur individuellen Moral und Vertröstung verharmlost. Gott ist
aber eben kein „.Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis' [...],
den man aufmarschieren lässt, ,entweder zur Scheinlösung unlösbarer Proble-
me oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer in Ausnutzung menschli-
cher Schwäche beziehungsweise an den menschlichen Grenzen'." u Angesichts
nicht nur religiöser Orientierungslosigkeit, die nur allzu oft in Fundamentalis-
men umschlägt, geht es religiöser Bildung um die Begegnung mit dem Gott, der
nicht nur an den Grenzen des menschlichen Lebens zu finden ist.12 Damit legt
Bonhoeffer das Christentum an seinem Ort in der Welt aus und ironisiert all
diejenigen Versuche, die christlichen Glauben nur an den Grenzen des Lebens
für bedeutsam erachten und ihn sonst an den Rand drängen oder privatisieren.

Gerade um dieser unerlässlichen Auseinandersetzung über die Grundla-
gen von Kultur und Gesellschaft willen wird auch Religionskritik nicht nur
von außen an das Christentum herangetragen; sie ist vielmehr ein genuines
Moment christlichen Glaubens selbst.13 Die missbräuchliche Inanspruchnah-
me der Religion für bestimmte politische Zwecke ist keineswegs auf den Islam
beschränkt; sie ist vielmehr in letzter Zeit zunehmend auch im Christentum
zu beobachten, wie sich nicht zuletzt an der „religiösen Rechten" in den USA
zeigt. In solchem Gebrauch kommt der Glaube zu kurz und wird zur bloßen
subjektiven Überzeugtheit und letztlich zur Ideologie, in deren Kritik das de-
mokratische und öffentliche Interesse mit dem theologischen übereinkommt.
Christliche Bildung dient in der Kritik einer politischen Religion, die auch da
erscheinen kann, wo an der Oberfläche keine religiösen Begriffe gebraucht
werden, einer fundamentalen Bildungsaufgabe in einer demokratischen und
pluralen Gesellschaft und leitet zugleich zur Begegnung mit der christlichen
Tradition an. Der Respekt gegenüber anderen religiösen und weltanschauli-
chen Orientierungen ist theologisch die Rückseite der Erfahrung des Gottes,
der menschliche Ideale und Ideologien nicht überhöht, sondern heilsam durch-
bricht.

Religiöse Bildung in evangelischer Perspektive muss daher sowohl die Of-
fenheit für eine plurale Wirklichkeit einüben wie auch die Einführung in die
Tradition des biblisch begründeten Glaubens, der sich einer Identifikation mit
einer Weltanschauung widersetzt. Martin Hailer spricht pointiert von der Welt-
fremdheit des Christen, die auf spannungsvolle Weise Glauben und Welt bei-
einander hält und doch unterscheidet: „Welt ist nicht so Heimat, wie sie uns

11 Godsey 1990,142.

12 Vgl. Bonhoeffer 1985,307.

13 Link 1999,100: „Religionsfcrifi'fc also steht im Dienst der theologischen Aufgabe, der Welt die
Augen für den Weg der Wahrheit zu öffnen, der durch ihre eigene Mitte hindurchführt."
 
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