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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0178

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i66 Hartmut Titze

den (formale Rechtsgleichheit). Das moderne Vertragsrecht als Grundfigur
der bürgerlichen Gesellschaft eröffnete dem einzelnen die Möglichkeit, sei-
ne Entfaltungschancen selbstverantwortlich durch privatautonomes Vertrags-
handeln zu gestalten. Auf der Ebene soziologischer Analyse lässt sich der
Übergang vom Status- zum Vertragsrecht als Freisetzung der liberalkapita-
listischen Wirtschaftsgesellschaft durch die Agrar- und Gewerbereformen seit
Beginn des 19. Jahrhunderts beschreiben. Die Freisetzung aus den ständisch
geschlossenen Lebenswelten in die verstaatliche privatautonome Handlungs-
sphäre der bürgerlichen Gesellschaft manifestierte sich in der Ausgrenzung
persönlicher, ökonomischer und politischer Freiheitsrechte. Freiheit, Gleich-
heit und Brüderlichkeit waren die Programmbegriffe der bürgerlichen Auf-
bruchsbewegung. Mit ihrem universalistischen Gehalt sind sie auch heute noch
verpflichtend.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund ist die spezifische Rolle der Jugend
bei der Herausbildung der bürgerlichen Vergesellschaftung und der Moder-
nisierung der Lebensweise zu sehen. Seit etwa 1770 lässt sich die Entdeckung
der Jugend in der Anthropologie und die emphatische Aufwertung der Adoles-
zenz erkennen. Die neue Anthropologie beruhte wesentlich auf der Erfahrung
und war diesseitig orientiert. Drei zentrale Strukturelemente sind im Zusam-
menhang zu betonen: (1) Der Mensch ist ein Mängelwesen, das heißt hilfsbe-
dürftig und deshalb notwendig auf Erziehung angewiesen. Dieser Gedanke ist
von Johann Gottfried Herder (1744-1803) am besten herausgearbeitet worden.
(2) Wegen seiner Mangelhaftigkeit ist der einzelne auf den Mitmenschen an-
gewiesen und kann nur in Geselligkeit leben. Die Vergesellschaftung auf frei-
williger Basis für die Lebensweise der Menschen wird grundsätzlich erkannt.
Diese Bedeutung der Vergesellschaftung für die höchste Bildung des einzel-
nen Menschen ist besonders von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) betont
worden, der als typischer Generationsvertreter der Reformer um 1800 aufge-
fasst werden kann. Humboldt schreibt: „Denn nur gesellschaftlich kann die
Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung
vieler nicht bloss um durch blosse Vermehrung der Kräfte grössere und dauer-
haftere Werke hervorzubringen, sondern auch vorzüglich um durch grössere
Mannigfaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren Reichthum und ih-
rer ganzen Ausdehnung zu zeigen. Ein Mensch ist nur für Eine Form, für
Einen Charakter geschaffen, ebenso eine Classe der Menschen. Das Ideal der
Menschheit aber stellt soviele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer
mit einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalität der
Individuen erscheinen".2 Der persönliche Stand entnimmt aus der Adelswelt
die Geselligkeitskultur und aus dem Gelehrtenstand (Gelehrtenrepublik) die
Erfahrung der Gleichberechtigung der Partner. (3) Aus der geselligen Verbin-
dung der Menschen geht die Kultur hervor. Die Kultur wird von den Menschen,

Vgl. Humboldt 1960, Bd. 1,339.
 
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