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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0183

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Bildungskrisen und Selbstorganisation der Kultur 171

Natürlich galten diese hohen Ansprüche der Kommunikation im Umgang der
Generationen zunächst nur für die dünne Schicht der Gebildeten.

2 Die Umstellung der Lebensweise auf funktionale Integration

Die Entwicklung von der ständischen Reproduktion in überschaubaren eher
statischen Lebensverhältnissen zu eher dynamischen sozialen Beziehungen in
einer verfachlichten komplexen Umwelt lässt sich grob in drei Teilprozesse zer-
legen. Erstens wurde der Modus der Vergesellschaftung von der natürlichen
Auslese auf die Bildungsselektion umgestellt. (Streng genommen sind Bil-
dungssysteme nie abgeschlossen, weil die Organisation von Bildungsprozes-
sen immer weiter geht und Reflexionen nie stillgestellt werden können.) Zwei-
tens schlug die moderne Arbeitsteilung in der Lebensweise durch, indem das
fachlich differenzierte Lernen in den Bildungseinrichtungen institutionalisiert
wurde. Hier heben sich die Jahrzehnte von 1860 bis 1880 als beschleunigte Ver-
fachlichung aus dem historischen Prozess heraus.1J Vielleicht sollte man sagen:
Nach diesen Jahrzehnten gab es hinsichtlich der Differenzierungsdynamik kein
Halten mehr, waren die Weichen für das moderne Fachmenschentum definitiv
gestellt. Drittens schließlich verselbstständigte sich das Bildungswesen soweit,
dass es gegenüber den anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens seine
relative Autonomie gewann und in seiner Eigendynamik von tiefblickenden
Zeitgenossen wahrgenommen wurde.

Nachdem die Menschen durch die neuhumanistisch inspirierten Reformen
aus ständischen Ordnungen freigesetzt waren, strebten sie Selbstverwirkli-
chung in geselligen Verhältnissen jenseits der früheren Grenzen an. In den
i8io/i82oer Jahren registrieren wir in zahlreichen deutschen Regionen eine
bedeutende Zustromwelle in die höheren Schulen. Zahlreiche Belege lassen
den Schluss zu, dass herrschaftliche Interessen das bürgerliche Streben nach
Bildung und Aufstieg im Vormärz zeitweilig gebremst haben.l8 Die periodi-
sche Wiederkehr von Mangel- und Überfüllungserscheinungen bei der Be-
setzung beruflicher Stellungen in der akademischen Führungsschicht sorgte
allerdings für weitere soziale Bewegungen. In der vormärzlichen Phase eines
Überangebots von qualifizierten Nachwuchskräften setzte sich in den 1830er
und 1840er Jahren eine schärfere Abgrenzung der Fächer in den höheren Bil-
dungseinrichtungen und den Berufsfeldern durch. Die Monopolisierung der
Berufsrolle (beispielsweise die Abgrenzung der gelehrten Schulmänner von
den Theologen, die Abgrenzung der Ärzte von anderen Heilpersonen) führte
auf längere Sicht zu einer funktionalen Vergesellschaftung anstelle der hier-
archischen Abschottung von ständischen Lebenswelten. Die fachliche Abgren-
zung und Konzentration der Anstrengungen auf seinen eigenen Wirkungsbe-
reich beförderte wiederum in Gestalt des Leistungswissens das fachspezifische

Vgl. Seier 1997.
Vgl-Vierhaus 1987.
 
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