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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0184

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172 Hartmut Titze

Lernen und trug den Wandel von der Privilegienhierarchie zur Kompetenzhier-
archie weiter. Die fachliche Differenzierung in Phasen der Berufsüberfüllung
scheint ein in der Tiefenstruktur des gemeinsamen Lebens wirksamer kultu-
reller Mechanismus zu sein, der vom frühen 19. bis zum späten 20. Jahrhun-
dert besonders bei den Ärzten zuverlässig nachgewiesen werden kann, denn
das periodisch wiederkehrende Überangebot von Ärzten ist ein Jahrhundert-
thema.19

Nach der Freisetzung aus der Tradition und der Verselbstständigung des Le-
benslaufs wurde der Nachwuchs in den neu aufgebauten Bildungseinrichtun-
gen für zukunftsorientierte Bildungsprozesse „festgestellt". Aus pädagogischer
Sicht ist durch den historischen Aufbau eines Bildungssystems im Lebens-
lauf ein Freiraum für das Reifen und Lernen der Kinder und Jugendlichen
institutionalisiert worden. Die jeweils nachwachsende Generation soll im Bil-
dungssystem für sich selbst lernen, wie sie ihre Zukunft gestalten möchte.
Das auf die autonome Gestaltung der Person gerichtete Wissen lässt sich als
Bildungswissen begreifen. Das Bildungssystem als Teilsystem der modernen
Gesellschaft hat durch diese Freiheitsspielräume die Steuerung des gemeinsa-
men Lebens durch die Tradition weitgehend abgelöst. Bei Langzeitvergleichen
muss nachdrücklich betont werden, dass die Erfolgsquote der Schülerinnen
an höheren Schulen einem Wachstumstrend von ca. 20-30 Prozent auf über
80 Prozent folgt. Die Halte- oder Bindekraft der Institution höhere Schule hat
in den letzten zweihundert Jahren stark zugenommen. Die heranwachsenden
Generationen hatten jeweils zunehmend mehr Möglichkeiten und Zeit, sich
im Bildungssystem als eine Persönlichkeit bis zur Reife aufzubauen, bevor
sie ins Berufsleben eintraten.20 Die Meritokratisierung der Vergesellschaftung
hat dem Schulwesen und der räumlichen Verteilung des Wissens zu einem
großen Bedeutungsanstieg verholfen.21 Historische Erfahrungen der Genera-
tionen können als evolutionäres Lernen aufgefasst werden, durch das sich die
Kultur durch ihre Träger durch selbstbestimmte Bildungsprozesse von unten
organisiert. Zu ähnlich interessanten Überlegungen führt die Thematisierung
der Institutionenentwicklung in einer kulturanthropologischen Perspektive.22

Mit der historischen Ausdifferenzierung der modernen Erfahrungswissen-
schaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch die sich die Le-
benswelt zur problematischen Aufgabe wurde und selbstkritisch für rationa-
lisierende Interventionen bespiegelte, beginnt auf institutioneller Ebene die
Selbstorganisation der Kultur von unten. Bis zur Abdankung und zum Ab-
bau bürokratischer Kontrollsysteme am Ende des 20. und zu Beginn des 21.
Jahrhunderts erfasste die Selbstorganisation der Kultur von unten alle Lebens-
bereiche. Die zwangsintegrierten nationalen Machtstaaten des vergangenen

19 Vgl. Vogt 1996,892; Huerkamp 1985; Drees 1988.
20Vgl.Nath2004,i72ff.

21 Vgl. Meusburger 1998.

22 Vgl. Klages 2003.
 
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