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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0245

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Bildung als kritisches Korrektiv der Gesellschaft 233

Die bereits angesprochene Abstinenz bezüglich ausformulierter Zielset-
zungen äußert sich im Bildungsdenken des 18. Jahrhunderts in Form von eher
formalen, inhaltlich aber offenen Bestimmungen. In seinem aufschlussreichen
und wenig rezipierten Buch „Die Entstehung des deutschen Bildungsprin-
zips" 3° erläutert Hans Weil dies anhand der zwei Grundannahmen, die er für
die Phase der Entstehung des bürgerlichen Bildungsdenkens im 18. Jahrhun-
dert herausarbeitet: „Sich zum Bilde machen" in Gestalt der selbstbewirkten
harmonischen Formung der eigenen Seele und die „Ausbildung der gegebe-
nen Anlagen" zu voller Blüte oder Frucht.31 Formal bleiben diese, einander
durchaus verwandten Ziele, indem sie lediglich besagen, „dass der Mensch an
sich selbst gewissenhaft zu wirken habe, dass er Kräfte zu einer individuel-
len Vollendung nutzen solle, sie sagen ihm aber nichts darüber, wie nun seine
Vollendung, seine ihm vorgegebene oder ihm aufgegebene ,Blüte' sei oder sein
wird, geben ihm, [... ] um im Bilde zu bleiben, [... ] keine Anweisung darüber,
wie sich die Funktion des Gärtners, des Bildners zu gestalten habe."32 „In-
dividuelle Vollendung" nimmt hier den Charakter einsamer Selbststeigerung
an, der Bildung in der heroischen Phase des sich vom Feudalismus eman-
zipierenden Bürgertums kennzeichnet. Der „Gebildete" glaubt „sich aus der
auf Machtverhältnissen beruhenden politisch-gesellschaftlichen Rangordnung
herausgehoben und eingegliedert in eine andere mit der politischen konkur-
rierende geistig-soziale Rangordnung."33

Diese Stellung legt nahe, sich über eine Reihe von Entgegensetzungen zu
definieren: Von der Rousseauschen Unvereinbarkeitserklärung „Mensch" ver-
sus „Bürger" über Herders Abgrenzung von Seele, Gefühl, Intuition gegen den
„Geist der Mechanik" zur facettenreichen Pflanzenmetaphorik, der zufolge
Bildung Ausformung natürlicher Keime, Wachstum, Blüte, Frucht bedeutet, im
Gegensatz zur Gesellschaft als „kunstreichem Uhrwerk", wie Schiller formu-
liert.34 Das „Reich der Bildung" konstituiert sich über die Gegenüberstellung
innerer Form und veräußerlichter Weltlichkeit. Dieser Dualismus beerbt in
seinen eindeutig negativen Bewertungen des Pols der Weltlichkeit christliche
Vorstellungen; insbesondere die pietistische Überzeugung, dass Gott über in-
nerliche Gefühlbeziehungen erfahrbar wird, bedeutet, dass alles Äußere mit
den Attributen des Unwahren und Falschen versehen wird.

30 Weil 1930/1967,132.

31 Zur Metaphorik des frühen Bildungsbegriffs vgl. auch Schaarschmidt (1931/1965)

32 Weil 1930/1967,132. Formal ist dieses Bildungsideal in Bezug auf das Ziel, nämlich Individuie-
rungsprozesse zu unterstützen, es enthält jedoch keine Entscheidung über die Mittel dazu, wie
sie unter der Überschrift „formale" vs. „materiale" Bildung diskutiert werden. Diese letztere
Unterscheidung soll im Folgenden keine Rolle spielen. Vergegenwärtigt man sich, dass das
Individuum - mit W. v. Humboldt zu sprechen - sich darüber entwickelt, dass es sich soviel
„Welt" als möglich aneignet, so wird deutlich, dass es bei der Alternative „formal vs. material"
allenfalls um Gewichtungen gehen kann.

33 Weil 1930/1967,9.
Schiller 1795,584.
 
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