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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0244

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232 Rose Boenicke

Geschichte des Bildungsdenkens übernimmt. Einerseits wird der Bildungsbe-
griff von ihr als zu individualistisch und vermeintliche „Bildungsgüter" bloß
konservierend zurückgewiesen, andererseits knüpft die Haltung, Zielvorgaben
im Wesentlichen negativ zu bestimmen, an die Maxime des 18. Jahrhunderts
an, Selbstbestimmung zum Mittelpunkt aller Bildungsbemühungen zu erhe-
ben. Dies erfordert den Verzicht darauf, vorweg inhaltlich dem Einzelnen zu
verordnen, wie und was er zu sein habe. Das Individuum wird als unhintergeh-
bares, letztbegründendes Subjekt begriffen; als dieses konstituiert es sich über
Leistungen seiner Vernunft, die vor allem als Fähigkeit zu kritischer Reflexion
ausgelegt werden.

Wie zeitgebunden diese Auslegung des Subjektbegriffs ist, wurde erst auf
einem langen und mühevollen Wege der Selbstkritik der Vernunft deutlich,
der im Durchgang durch eine erneute Lektüre der Schriften von Nietzsche und
Freud, von Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung" und Fou-
caults Machtanalytik die Selbstillusionierungen und Selbstüberforderungen
begreiflich machte, an denen das Konzept der Emanzipationspädagogik zer-
brach. Freilich bedurfte es nicht des Umwegs über diese „großen Theorien",
um die Erfahrungen der Linken mit „Autonomie als Selbstzerstörung" formu-
lierbar zu machen.2/ Nach einer Skizze der bildungstheoretischen Traditions-
linien (II), die auf die Voraussetzungsabhängigkeit der kritischen Pädagogik
der 60er und 70er Jahre hinweisen, sollen auf dieser Basis die Bedingungen
ihres Scheiterns beleuchtet werden (III).

II Aspekte des Bildungsbegriffs

Das von Hegel später etwas abschätzig so genannte „Reich der Bildung" be-
greift sich im 18. Jahrhundert als Gegenwelt zur prekären gesellschaftlichen
Realität.28 Es lässt sich als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, als An-
spruch auf Selbstschöpfung verstehen, aber auch als Kompensation, bloßer Er-
satz für das Scheitern der politischen Ambitionen des Bürgertums, der Hoff-
nungen auf gesellschaftliche Verbesserungen und als Reaktion auf Krisener-
fahrungen im Umkreis der Französischen Revolution.29 Bildungserfahrungen
werden zur Kompensation für realen Einfluss, Individualität zum einzigen „Be-
sitz" angesichts sozialer Unsicherheit. Mehr noch: Die Ausbildung der eigenen
Anlagen und die Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit werden mit der
Aura des Vornehmen umgeben, Geistigkeit wird zur Gegeninstanz zu sozialer
Macht.

27 Zur Lippe 1975.

28 Hegel 1807,327. Vgl. auch ebd., 384: „Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene
Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung."

29 Als Spezifikum deutscher Geschichte beschreibt Heydorn (1970) diesen Umschlag von Selbst-
schöpfung in Ersatzhandlung und Bildung als seinen Austragungsort.
 
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