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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0243

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Bildung als kritisches Korrektiv der Gesellschaft 231

dein. Nur einige der ungelösten Probleme sollen hier angesprochen werden,
auf die die Erziehungswissenschaft bei der Transformation einer kritischen
Theorie der Erziehung und Bildung in eine Praxistheorie stößt:

- Negation von Zwang: Wenn schon versucht wird, die Autorität des Erzie-
henden oder Lehrers zur bloßen Sachautorität zurückzunehmen, welche
Autorität kommt dann dem Korpus gesellschaftlichen Wissens zu? Sich es
anzueignen, bedeutet immer ein hohes Maß an unlustvoller Arbeit - wie
soll emanzipatorische Erziehung die Aufgabe lösen, solche Repressionser-
fahrungen zu vermitteln?

- Mündigkeit unter entwicklungspsychologischer Perspektive: Wie viel Bin-
dungserfahrungen sind zuvor nötig, um die Fähigkeit zu selbstbestimmtem
Handeln zu ermöglichen? Sicher gilt in jedem pädagogischen Verhältnis,
dass nur, „wenn der Erzieher die - noch nicht vorhandene - Selbstständigkeit
des anderen unterstellt, [...] dieser die Chance [hat], auch selbstständig
zu werden".2<3 Wie aber verhält sich dieses Postulat zu der entwicklungs-
psychologischen Tatsache der zeitweiligen Angewiesenheit auf das Vorbild?
Welchen Gebrauch dürfen und müssen Pädagogen von ihrem Wissens- und
Erfahrungsvorsprung machen?

- Affirmation versus Negation: Wie kann der Auftrag umgesetzt werden, den
jede Pädagogik hat, auf ein erfolgreiches Leben in der Gesellschaft vorzube-
reiten und in seine Spielregeln einzuführen, wenn sie doch kritische Distanz
an die oberste Stelle setzt? Enthält ihr Postulat, dieser Widerspruch sei vom je
Einzelnen in Gestalt einer reflektierten Vermittlungsleistung zu lösen, nicht
einen uneingestanden elitären Anspruch?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass diese ungeklärten Fragen eher
auf Modifikationen als auf eine Revision des Ansatzes kritischer Pädagogik
hinauslaufen, indem zum Beispiel entwicklungspsychologische Elemente in
die Theorie integriert werden. Diesen Weg der Integration der Erfahrungswis-
senschaften hat die kritische Pädagogik selten beschritten und sich trotz aller
antibürgerlichen Affekte eher auf theoretische Voraussetzungen bezogen, die
an frühe Formulierungen des Bildungsgedankens im 18. Jahrhundert anknüp-
fen. Dieses Bildungsdenken des gerade erst sich konstituierenden Bürger-
tums wird nun, rund 200 Jahre später, zwar mit gesellschaftstheoretischen
Begriffen überschrieben, aber in zentralen Grundannahmen wieder aufge-
griffen.

So sehr sich diese kritische Pädagogik als Neubeginn begreift und dies
unter anderem auch dadurch ins Werk setzt, dass sie ihre entscheidenden
Impulse aus der Gesellschaftstheorie anstatt, wie zuvor, aus den Geisteswis-
senschaften ableitet, so unübersehbar ist doch die Problemlast, die sie aus der

26 Fend 1977,98.
 
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