Ethnizität und Bildungsverhalten
Ein kritisches Plädoyer für eine „Neue" Kulturgeographie
WERNER GAMERITH
Ohne Zweifel hat die vielbeschworene „kulturelle Wende" in den Sozialwis-
senschaften nun auch die Geographie und ihre auf den Menschen bezogenen
Teilgebiete erreicht. Das Interesse gilt Artefakten, kulturellen Formen, Prak-
tiken und Konflikten in ihrer Räumlichkeit und in ihrer kontextgebundenen
Verankerung. „Kulturgeographie" im engeren Verständnis - also nicht im Sinne
eines Synonyms für die Human- oder Anthropogeographie als einer der bei-
den Säulen der wissenschaftlichen Geographie - erlebt seit den frühen 1990er
Jahren einen ungeahnten Aufschwung. *
Wie viele andere Impulse für die Wissenschaft ist auch der neue kultur-
betonte Strang in der deutschsprachigen Geographie weitgehend ein Trans-
plantat aus dem angelsächsischen Universitätsbetrieb, besonders aus Groß-
britannien und den USA. Seit Ende der 1990er Jahre wird auch hierzulande
über eine „Neue" Kulturgeographie nachgedacht, ohne dass sich - in Deutsch-
land - jemals eine „alte" Kulturgeographie Sauer'schen Zuschnitts etablieren
hatte können, die nun zum Spiegel- oder auch Zerrbild eines „neuen" kultur-
geographischen Forschungsstrangs hätte werden können. Im Gegensatz zur
US-amerikanischen Situation besteht nun in der deutschsprachigen Anthro-
pogeographie die etwas kuriose Situation, dass sich eine Forschungsrichtung
durchzusetzen beginnt, der die Vorgängertradition fehlt, auf deren Kritik sie ih-
re Legitimation in wesentlichen Teilen stützt. Die angelsächsische New Cultural
Geography immerhin kann sich tatsächlich auf die Berkeley School der klassi-
schen amerikanischen Kulturgeographie beziehen, hier ein statisches, „super-
organisches", ontologisierendes und reifizierendes Kulturverständnis monie-
ren und diesem ihr dynamisches und konfliktorientiertes Konzept von Kultur
gegenüberstellen.
Auch wenn es sicherlich reizvoll ist, sich dieser Dialektik von Forschungs-
traditionen und Kulturtheorien zu öffnen, um auf dieser Basis eine „enga-
gierte" Geographie zu fordern, die einem ständigen Wandel von Kultur, einem
kontext- und situationsabhängigen „Aushandeln" von Kultur, einem „Kultur
Vgl. Kemper 2003.
Ein kritisches Plädoyer für eine „Neue" Kulturgeographie
WERNER GAMERITH
Ohne Zweifel hat die vielbeschworene „kulturelle Wende" in den Sozialwis-
senschaften nun auch die Geographie und ihre auf den Menschen bezogenen
Teilgebiete erreicht. Das Interesse gilt Artefakten, kulturellen Formen, Prak-
tiken und Konflikten in ihrer Räumlichkeit und in ihrer kontextgebundenen
Verankerung. „Kulturgeographie" im engeren Verständnis - also nicht im Sinne
eines Synonyms für die Human- oder Anthropogeographie als einer der bei-
den Säulen der wissenschaftlichen Geographie - erlebt seit den frühen 1990er
Jahren einen ungeahnten Aufschwung. *
Wie viele andere Impulse für die Wissenschaft ist auch der neue kultur-
betonte Strang in der deutschsprachigen Geographie weitgehend ein Trans-
plantat aus dem angelsächsischen Universitätsbetrieb, besonders aus Groß-
britannien und den USA. Seit Ende der 1990er Jahre wird auch hierzulande
über eine „Neue" Kulturgeographie nachgedacht, ohne dass sich - in Deutsch-
land - jemals eine „alte" Kulturgeographie Sauer'schen Zuschnitts etablieren
hatte können, die nun zum Spiegel- oder auch Zerrbild eines „neuen" kultur-
geographischen Forschungsstrangs hätte werden können. Im Gegensatz zur
US-amerikanischen Situation besteht nun in der deutschsprachigen Anthro-
pogeographie die etwas kuriose Situation, dass sich eine Forschungsrichtung
durchzusetzen beginnt, der die Vorgängertradition fehlt, auf deren Kritik sie ih-
re Legitimation in wesentlichen Teilen stützt. Die angelsächsische New Cultural
Geography immerhin kann sich tatsächlich auf die Berkeley School der klassi-
schen amerikanischen Kulturgeographie beziehen, hier ein statisches, „super-
organisches", ontologisierendes und reifizierendes Kulturverständnis monie-
ren und diesem ihr dynamisches und konfliktorientiertes Konzept von Kultur
gegenüberstellen.
Auch wenn es sicherlich reizvoll ist, sich dieser Dialektik von Forschungs-
traditionen und Kulturtheorien zu öffnen, um auf dieser Basis eine „enga-
gierte" Geographie zu fordern, die einem ständigen Wandel von Kultur, einem
kontext- und situationsabhängigen „Aushandeln" von Kultur, einem „Kultur
Vgl. Kemper 2003.