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Heidelberger Familienblätter — 1862

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Nr. 130 - Nr. 142 (2. November - 30. November)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43183#0525

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Heidelberger Lamilienblätter.

Nr. 131. Mittwoch, den 5. November 1862.

Die muyſteriöſe Schrift
oder

Ein räthſelhaftes Verbrechen.
Amerikaniſche Criminal⸗Novelle. Nach dem Engliſchen des H. L. Longford.

ö ö (Fortſetzung.) ö
„Nun folgte Kummer, Scham und Angſt. Vor der Entdeckung
zitternd, beſchwor ſie mich, ſie zu heirathen. Aber daran hatte ich nie
gedacht. Es lag ganz und gar nicht in meiner Abſicht. Ich wich ihrem Ver-
langen, ſo gut ich konnte, aus. ö ö
„Die Zeit verging, und ſie wurde dringender. Sobald wir zuſam-
men kamen, ſprach ſie von nichts Anderem. Oft kniete ſie vor mir und
beugte ihr ſchönes Haupt zu meinen Füßen hinab, und beſchwor mich,
ſie vor Schande zu bewahren. Aber ich war fühllos wie ein Fels. Dann
entfernte ich mich tagelang von ihr, und ſie ſchrieb mir in ihrer Angſt
lange Briefe, oder ſie paßte mir in der Nähe des Hauſes auf, bis ich
kaum auszugehen wagte, aus Furcht, ihr zu begegnen. Gott ſei mir
gnädig! Welche Angſt muß das arme Geſchöpf ausgeſtauden haben.
Welch' ein unausſprechliches Weh lag in ihren Augen, wenn ſie mich
anflehte, ſie zu retten.“ ö
Der Zeuge machte eine Pauſe, von ſeiner Gemüthsbewegung überwältigt.
Die Aufgeregtheit in der Verſammlung war ſchrecklich. Als ſie ſein
furchtbares Geſtändniß hörten, ſahen ſie ihn drohend an. Laute Verwün-
ſchungen ertönten, als er eine Pauſe machte, und hätte es in der Macht
der Zuſchauer geſtanden, ſie würden ihn in Stücke zerriſſen haben.
„Ich kam hierher, um Alles zu bekennen, rief der unglückliche Mann,
ſeine Erzählung wieder aufnehmend, und Alles ſoll geſagt werden.
„Das arme junge Mädchen wurde ganz verwirrt. Ihr Vater war
den ganzen Tag auf dem Felde und war Abends zu müde, um eine Ver-
aͤnderung in der Gemüthsſtimmung ſeiner Tochter zu bemerken. Auch
wäre er kaum fähig geweſen, zu ſehen, ob ſie traurig oder fröhlich ſei,
da er von einem verdroſſenen, vor ſich hinbrütenden Temperamente war.
„Aber mich ermüdete ihre Zudringlichkeit. Ich konnte ſie nicht hei-
rathen, dachte ich — Thor, der ich war! — ich dachte, es würde Ernie-
drigung ſein.
„Sie hörte nicht auf, mich zu beläſtigen. Ich wurde zornig und
er ſchrocken zu gleicher Zeit. Ich erwartete täglich die Rückkehr meines
Bruders. Ich zitterte vor der Ausſicht, wenn er nach Hauſe käme und
Alles entdeckte. Doch wußte ich nicht, was ich thun ſollte. Wenn ich
entflöhe, es würde mir zu nichts helfen, denn Alles würde an den Tag
kommen — und was ſie betraf, ſie wollte den Ort nicht verlaſſen, wenn
ich ſie nicht begleitete, und wenn ich mit ihr ginge, ſo würde es eben ſo
ſchlimm, ja noch ſchlimmer ſein.
 
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