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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0027

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Zum aktuellen Stand der Forschung

23

Als eigene Bildkategorie behandelt Walter Liedtke
Vermeers Tronien und setzt sie motivisch zu Werken
von Malern wie Rembrandt, Backer, Flinck und Boi in
Beziehung.72 Die Klassifizierung der Brustbilder Ver-
meers als Tronien erfolgt wie auch im Falle Sweerts’
und der erwähnten Utrechter und Haarlemer Maler
unter Berufung auf die Rembrandt-Forschung.
Unterschiedliche Probleme der Tronie-Forschung
wurden auf einem im Oktober 2000 in Den Haag ab-
gehaltenen Symposium zum Thema »>Tronies< in de
Italiaanse, Vlaamse en Nederlandse schilderkunst van
de 16de en 17de eeuw« diskutiert.73 Wie schon der Ti-
tel des Symposiums besagt, wurden nicht nur hollän-
dische, sondern auch flämische und italienische Werke
in den Blick genommen.74 Zu den in der vorausge-
henden Forschung als Tronien bezeichneten Bildern
der flämischen Malerei gehören Werke des 16. und 17.
Jahrhunderts, die ursprünglich in unterschiedlichs-
ten Funktionszusammenhängen standen. Jan Muylle
zählt zum einen groteske Köpfe von Quinten Massys,
Hieronymus Cock und Hans Liefrinck zur Werk-
kategorie Tronie, zum anderen die im 17. Jahrhundert
mehrfach edierten Stichserien von Bauernköpfen, als
deren Erfinder zu ihrer Entstehungszeit Pieter Brue-
gel d. Ä. galt.75 Im Zusammenhang mit der Untersu-
chung der Bauernköpfe beschreibt der Autor Tronien
als »de karaktenstieke weergave van het hoofd van
een type.«76 Muylle zufolge sind die mit dem Namen
Bruegels verbundenen gestochenen Köpfe als physio-
gnomische Studien zu verstehen.
Der Kurt Bauch-Schüler Justus Müller Hofste-
de führte den Begriff Tronie bereits 1968 für die zur
Werkvorbereitung geschaffenen Köpfe des Frans Floris
ein.77 Darüber hinaus bezeichnet der Autor flämische
Kopfstudien des 17. Jahrhunderts, die ebenfalls dienen-

de Funktionen innerhalb des Werkprozesses erfüllten,
als Tronien.78 Hierzu gehören neben den Kopfstudien
von Peter Paul Rubens auch Werke Anthonis van
Dycks und Jacob Jordaens’.
Die Frage nach dem Studiencharakter eines ge-
malten Kopfes oder Brustbildes spielt auch für die
Beurteilung der in den Nördlichen Niederlanden ent-
standenen Tronien eine wesentliche Rolle. Zwar wird
in der Forschung zur holländischen Malerei betont,
dass Tronien im 17. Jahrhundert für den freien Markt
und damit als selbständige Kunstwerke geschaffen
wurden.79 Gleichzeitig nehmen jedoch einige Autoren
an, dass die Bilder auch didaktische Zwecke erfüllen
konnten. So gehen Josua Bruyn, Peter Schatborn und
Eric Jan Sluijter davon aus, dass Tronien Malerlehr-
lingen während ihrer Ausbildung als Übungsstücke
dienten.80 Zudem werden Gemälde verschiedener
Künstler, die als Tronien gelten können, sowohl in der
älteren als auch in der jüngeren Forschung wiederholt
als >Studien< bezeichnet, oder es wird ihr >studienhafter
Charakter< hervorgehoben.81 Nicht gefragt wird in
diesem Zusammenhang, ob Tronien von Malern, die
bereits seit vielen Jahren als selbständige Meister tätig
waren, in funktionaler Hinsicht tatsächlich als Studi-
enobjekte betrachtet werden dürfen oder ob ihr skiz-
zenhaftes Erscheinungsbild nicht vielmehr Ausweis
eines bestimmten künstlerischen Anspruchs ist, der
in den Gemälden seinen Ausdruck findet.
Abschließend ist hervorzuheben, dass hinsichtlich
der Frage nach Bedeutung und zeitgenössischem Ver-
ständnis von Tronien kein Forschungskonsens be-
steht. Einige Autoren nehmen an, dass die Bilder als
allegorische Personifikationen fungierten. So dienten
Tronien Bruyn zufolge dazu, den Vanitas-Gedan-
ken zum Ausdruck zu bringen.82 Van de Wetering

72 Liedtke 2000, S. 242-245.
73 Vgl. hierzu den Tagungsbericht von Hirsci-ifelder / Raupp
2001.
74 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Minna
Heimbürger das, was sie als das niederländische Konzept
der Tronie betrachtet, auf die Halbfigurenbilder Caravaggios
überträgt, Heimbürger 1990. Die Autorin setzt voraus, dass
Tronien als allegorische Darstellungen zu verstehen seien, die
sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnen.
75 Muylle 1994; ders. 2001; ders. 2002.
76 Muylle 2001, S. 175f.
77 Müller Hofstede 1968, S. 226.
78 Müller Hofstede 1968, S. 226f. Vgl. hierzu Held 1970, S.
285f.; Müller Hofstede im Nachwort zu Held 1970, S. 291f.;
Urbach 1983, S. 6f.

79 Brown 1981, S. 49; Blankert 1997/98a, S. 42; Veen 1997/98,
S. 71; Winkel 1999/2000, S. 60f.; Baer 2000/01, S. 34.
80 Schatborn 1986, S. 61; Sluijter 1988b, S. 35; Bruyn 1989, S.
16, 22; Schatborn 1991, S. 75; Bruyn 1991/92, S. 79f.
81 Für die ältere Forschung vgl. u. a. Bauch 1926, S. 30; Bruyn
1951, S. 214; Moltke 1965, S. 102-104; Haverkamp-Begemann
1967, bes. S. 112f.; Bredius / Gerson 1969, Kat. Nr. 178, S.
562, Kat. Nr. 206, S. 565; Schneider / Ekkart 1973, S. 27-30.
Für die jüngere Forschung vgl. u. a. Vries 1989, S. 191; F.
Lammertse in Kat. Rotterdam / Frankfurt 1999/2000, Kat.
Nr. 9, S. 100; Liedtke 2000, S. 242, 244; Kat. Amsterdam /
San Francisco / Hartford 2002, Kat. Nr. XXII, S. 142;
Duparc 2004/05, S. 48.
82 Bruyn 1988a, S. 67f.; Bruyn 1989, S. 22, Anm. 45.
 
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