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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0247

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Stellung der Tronie innerhalb der Gattungen

227

Historienbildern zu vergleichen sind, bedeutet dies,
dass ihnen durchaus der Status einer spezifischen
malerischen Aufgabe innerhalb der Historienmalerei
zuerkannt werden kann. Van Hoogstratens Konzept
zufolge gilt dies insbesondere dann, wenn die Fi-
guren als Träger einer edlen Gesinnung erscheinen,
wie es etwa bei betenden oder nachdenklichen Grei-
sen und Greisinnen der Fall ist [Kat. 35, Taf. 6, Kat.
261, Taf. 55].
Wie noch zu zeigen sein wird, wurden Tronien
in reicher (Phantasie-)Tracht vom zeitgenössischen
Betrachter als fiktive Persönlichkeiten von Rang und
Bedeutung interpretiert.66 67 Bemerkenswerterweise
findet sich bei van Hoogstraten ein deutlicher Hin-
weis darauf, dass der Autor entsprechende Bilder zur
höchsten Stufe der Malerei rechnete:
»Zommige dan worden ook zoo tot den hoogsten en voornaem-
sten trap in de Schilderkonst, die alles onder zieh heeft, geport en
gedreven, welke is het uitbeelden der gedenkwaerdichste Historien:
Onder deze is noch onderscheyt, eenige zijn ontrent prächtige en
hoogstaetlijke bezieh, en doen haer werk van goud en parlen en
edele steenen blinken. Andere zoeken treurige en beklaeglijke, en
bewegen het gemoed tot medelijden. Andere zwieren de Helden-
daden der ouden, krijgen, en verdervende oorlogen in ‘t hooft.
Andere vernoegen zieh alleen met heeren en vroizwen gelijkems-
sen te schilderen, en vinden het zelve ‘t profijtelijkst van al.«b7
Hans-Jörg Czech zufolge können mit den >heeren
en vrouwen gelijkenissen< »auf der dritten Ebene
von van Hoogstratens Modell nur (imaginäre) Por-
träts von Helden, Heiligen und anderen besonders
bildniswürdigen Personen gemeint sein.«68 * In ihrer
Eigenschaft als >Phantasiebildnisse< gehörten hierzu
zweifellos auch Tronien.
Die Zuordnung eines Figurenbildes zur Gattung
Historie oder zur Gattung Genre muss sich einer-
seits nach dem Bildgegenstand und seiner Darstel-
lungsweise, andererseits nach den Aufgaben und
Funktionen, die es erfüllte, richten. Was Tronien in
reicher Phantasietracht angeht, so ist festzustellen,
dass die Figuren durch die Einkleidung in besonders

kostbare, auf der Erfindung des Künstlers basieren-
de Gewänder66 in Verbindung mit ihrem meist wür-
devollen Ausdruck70 eine Überhöhung bzw. Ideali-
sierung erfahren. Die Bindung einer idealisierenden
Darstellungsweise an den Gegenstandsbereich der
Historienmalerei71 spricht für die Zuordnung der
entsprechenden Tronien zur Gattung Historie. Worin
die Funktionen von Tronien bestehen und wie sie von
den Zeitgenossen gedeutet wurden, ist Thema von
Teil V dieser Studie. Vorgreifend sei jedoch darauf
hingewiesen, dass sich zwischen den Zielsetzungen,
die Maler von Tronien in reichem (Phantasie-)Kos-
tüm und Historienmaler verfolgten, durchaus Über-
schneidungen ergeben. Tronien, die z.B. den Proto-
typ des mächtigen Herrschers, des weisen Gelehrten,
der frommen Prophetin oder des tapferen Feldherrn
verkörpern [Kat. 402, Taf. IX, 85, Kat. 430, Taf. X,
91, Kat. 448, Taf. 95, Kat. 529, Taf. 109], konnten
ebenso im Sinne tugendhafter Vorbilder verstanden
werden und zur Reflexion über eigenes Handeln an-
regen, wie benennbare Personen aus Geschichte und
Literatur, die auf mehrfigurigen Historienbildern er-
scheinen.72 Wie in Kapitel V.2 gezeigt wird, besteht
eine weitere Gemeinsamkeit von Tronien und His-
torienbildern in der Aufgabe des Malers, bestimmte
Affekte und Charaktereigenschaften überzeugend
zu vergegenwärtigen. Dies gilt zwar nicht minder
für die Genremalerei, allerdings mit anderer Aus-
richtung bezüglich der auszuwählenden Gefühlsre-
gungen und Charaktere.
Die Darstellungsweise von Tronien, deren Tracht
der Kleidung des Personals auf mehrfigurigen Gen-
rebildern entspricht, kann nicht als >idealisierend<
bezeichnet werden, sondern folgt dem lebhaft rea-
listischen Darstellungsmodus, der auch für Genre-
bilder typisch ist. Aufgrund bestimmter Charakte-
ristika sind die Figuren dem Aufgabenbereich der
Genremalerei zuzuordnen. Hierzu gehörte unter an-
derem die überzeugende Schilderung verschiedener,
auf eine komische Wirkung abzielender Affekte, die

66 Vgl. unten, Kap. IV. 1.1, 1.2.
67 Hoogstraten 1678, S. 79 (Hervorhebung von der Verf.).
68 Czech 2002, S. 267. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die
Beurteilung der Porträtmalerei durch Hoogstraten 1678, S.
87: »Jae de konterfeyters, die al reedelijke gelijkenissen mae-
ken, en oogen, neuzen, en monden al fraeitjes naevolgen, wil
ik zelfs niet buiten, of booven den eersten graet stellen, ten
zyze haere tronyen met de gemelde hoedanigheyt van de
verstandelijke ziele overstorten.« Sofern ein Porträt die ver-
nunftbegabte Seele des Dargestellten widerspiegele, ist van

Hoogstraten durchaus bereit, es in der Bewertung über den
ersten (und niedrigsten) Grad der Malerei zu stellen. Für eine
entsprechende Deutung der Stelle vgl. Brenninkmeyer-de
Rooij 1984, S. 65.
69 Zum Stellenwert des Kostüms als Phantasieprodukt des Künst-
lers vgl. unten, Kap. IV.2.2.4, S. 295-298.
70 Vgl. oben, Kap. III.3.2, S. 216.
71 Vgl. Raupp 1983, S. 407.
72 Zum vorbild- bzw. lehrhaften Gehalt der Historienmalerei
vgl. unten, Kap. V.l, S. 319, Anm. 88.
 
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