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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0296

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268

Die wechselseitige Beeinflussung von Porträt und Tronie

Kerrs, des Ersten Earl oj Ancram (1578-1654) (Edin-
burgh, The Scottish National Portrait Gallery) [Kat.
315, Taf. 67] von 1654 und das Porträt von Jacob Ju-
nius (1608-1671) (Milwaukee, Sammlung Alfred Ba-
der) [Kat. 316, Taf. XIX, 67].23 In beiden Fällen kon-
tunert Lievens die individuellen Gesichtszüge der
Dargestellten, ohne die weniger schmeichelhaften
Merkmale ihrer Physiognomie zu kaschieren. Bereits
anhand seiner Tronien der zwanziger und frühen drei-
ßiger Jahre hatte Lievens gelernt, dass der Verzicht
auf Idealisierung, die unregelmäßige Darstellung der
Augen, die Betonung von Falten, das Setzen dunkler
Akzente durch Verschattung, die differenzierte Ab-
stufung der Töne des Inkarnats und schließlich eine
lebhafte Pinselführung einem Gesicht besondere Le-
bendigkeit und einen Ausdruck verleihen, der es als
charaktervoll erscheinen lässt. Diese Aspekte zeich-
nen die beiden Bildnisse ebenso aus wie viele der in
Leiden entstandenen Tronien [Kat. 305, Taf. 64, Kat.
310]. Darüber hinaus liegt der Fokus der Darstellung
wie bei Tronien auf dem hell erleuchteten Gesicht
der porträtierten Männer, Gewand und Haare treten
dagegen in den Hintergrund.
Die Beispiele zeigen, dass Lievens die anhand von
Tronien entwickelten Stilmittel im Laufe seine Karrie-
re auch für Porträts einsetzte. Auf diese Weise konnte
er Bildnisse ebenso wie Tronien zu dem Zweck nut-
zen, seine besondere Befähigung zur Charakterdar-
stellung unter Beweis zu stellen. Interessanterweise
fand Lievens in Bildnissen gerade dann zu noch heute
beeindruckenden Lösungen, wenn er sie in einer Wei-
se gestaltete, die an seine Tronien erinnert.
Rembrandt
Auch im CEuvre Rembrandts lässt sich das Phäno-
men der Übertragung der für Tronien gebräuchlichen
künstlerischen Mittel auf konventionelle Porträts
beobachten.24 Bereits in der ersten Hälfte der drei-
ßiger Jahre wagte Rembrandt dieses Experiment, in-
dem er das Gesicht der Dargestellten auf dem bereits

erwähnten Bildnis der 83-jährigen Aechje Claesdr.
Pesser (London, National Gallery) [Kat. 425, Taf.
90] von 1634 in besonders freier Malweise ausführte.
Der Vergleich des Bildes mit Rembrandts schon zu
Anfang des Jahrzehnts entstandenen Tronien eines
Bärtigen alten Mannes mit Kappe (Kingston, Agnes
Etherington Art Centre, Queen’s University) [Kat.
395, Taf. V, 84] und eines Alten Mannes mit Mütze
und goldener Kette (Privatbesitz) [Kat. 398, Taf. 84]
zeigt deutlich, dass Rembrandt die Art der Model-
lierung des runzligen Gesichts mit gut sichtbaren
Pinselstrichen und in zum Teil pastosem Farbauftrag
bereits anhand der Tronien erprobt hatte, ehe er die
Malweise für das Bildnis nutzbar machte.25
In der Regel sind Rembrandts Auftragsbildnisse
in den dreißiger und vierziger Jahren allerdings sorg-
fältiger gemalt als seine Tronien. Vor allem die detail-
genaue Wiedergabe der Kleidung, bei der Rembrandt
die eigene Handschrift stark zurücknimmt, unter-
scheidet die Porträts von den gleichzeitigen Tronien.
Demgegenüber bedient er sich in den fünfziger und
sechziger Jahren bei der Ausführung insbesondere
seiner männlichen Bildnisse einer wesentlich raueren
Manier [Kat. 462, Taf. 98].26 Wie bei den in derselben
Periode geschaffenen Tronien modelliert Rembrandt
die Gesichter mit breiten Pinselstrichen und gibt die
Kleidung in beinahe skizzierender Weise wieder. An-
hand verschiedener Beispiele kann gezeigt werden,
dass sich die spezifische Gestaltung der Bildnisse tat-
sächlich am Bildtyp der Tronie orientiert und nicht
etwa umgekehrt davon auszugehen ist, dass der Meis-
ter Innovationen seiner Bildniskunst auf die ab Beginn
der fünfziger Jahre entstandenen Tronien übertrug.
Als Rembrandt im Jahr 1655 die Tronie einer Pe-
senden alten Frau27 (Drumlanrig Castle, Sammlung
des Duke of Buccleuch and Queensberry KT) [Kat.
448, Taf. 95] malte, hatte er noch kein weibliches Auf-
tragsbildnis geschaffen, das einen mit diesem Gemälde
vergleichbaren Grad der freien Ausführung aufweist.
Dies änderte sich spätestens mit dem Bildnis der Mar-

23 Zum Bildnis Kerrs vgl. Schneider / Ekkart 1973, S. 8, 67,
Kat. Nr. 244, S. 147, 334; Kat. Braunschweig 1979, Kat. Nr.
38, S. 113-115; Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1294,
Bd. 6, S. 3625. Zum Bildnis Junius’ vgl. Sumowski 1983-1994,
Bd. 3, Kat. Nr. 1295, Bd. 6, S. 3625.
24 Auch Schwartz 1989, S. 104-108, vertritt die Ansicht, Rem¬
brandt transferiere »certain elements of the tronie mode onto that
of the portrait« (S. 104). Die Beispiele, die der Autor zur Stützung
dieser These anführt, leuchten allerdings nicht immer ein. Abwe-
gig ist etwa die Behauptung, das Bildnis des Nicolaes Rats (1573-

1638) (New York, Frick Collection) [Kat. 403, Taf. 85] ähnele den
Tronien des Meisters, weil der Blick des Porträtierten nicht den
des Betrachters treffe, vgl. ebd., S. 104f. Schwartz’ Versuch auf-
zuzeigen, dass Rembrandt in seinen Porträts der dreißiger Jahre
»the impression [...] of the tronies’ psychological remoteness or
inwardness« (S. 106) hervorrufe, überzeugt nicht.
25 Vgl. Schnackenburg 2001/02, S. 115.
26 Vgl. auch oben, Kap. III.1.2, S. 126-129.
27 Vgl. jüngst Kat. Edinburgh / London 2001, Kat. Nr. 121, S.
212f.
 
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