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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0356

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328

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

physiognomischer Lehre und bezeugt die grundsätz-
liche Annahme, dass die in Porträtbüchern abgedruckten
Bildnisse Aussagekraft hinsichtlich der Wesensmerkmale
der dargestellten Personen besaßen. Noch Ende des 17.
Jahrhunderts widmet John Evelyn in seinen Numismata
(1697), einer Abhandlung über Medaillen berühmter Per-
sönlichkeiten, das Schlusskapitel der Physiognomik und
verleiht dabei seiner Ansicht Ausdruck, dass sowohl Me-
daillen als auch andere Bilder getreue Auskunft über den
Charakter eines Menschen gäben.64
2.2 Tronien als Manifestationen der
Affekt- und Charakterschilderung
Es ist zu erwarten, dass der zeitgenössische Diskurs
hinsichtlich des Ausdrucksgehalts und der Verständ-
nis- bzw. Interpretationsmöglichkeiten des mensch-
lichen Gesichts, welcher sich in der Kunstliteratur,
physiognomischen Traktaten, Porträtbüchern und
anderen schriftlichen Quellen manifestiert, auch die
Beurteilung von Tronien - >Bildern von Gesichtern<
par excellence - prägte. Hieraus ergibt sich die Frage,
welche Rolle die Vermittlung von Affekten und Cha-
raktereigenschaften für die künstlerische Konzep-
tion und Darstellungsabsicht von Tronien wie auch
für die Wertschätzung der Bilder durch die Betrach-
ter spielte.65 Signifikant ist in diesem Zusammenhang
die Beobachtung, dass viele Tronien in deutlich er-
kennbarer Weise eine Gemütsbewegung zeigen oder
aber durch die prägnante Darstellung individueller
Gesichtsmerkmale als besonders >charaktervoll< wir-
kende Figuren gestaltet sind.
Wenden wir uns zunächst jenen Tronien zu, deren
Gesicht einen bestimmten Affekt spiegelt. Besonders
häufig begegnen lachende Tronien von Knaben, (jun-
gen) Männern oder jungen Frauen, wobei sich die
Affektartikulation gerade bei den weiblichen Figuren
auf ein Lächeln beschränken kann.66 Mit dem Lachen
der Dargestellten geht oftmals eine bestimmte Kör-
perbewegung einher, wie z.B. Hals’ Peeckelhaering
64 Evelyn 1697, S. 292-342, bes. S. 339. Vgl. Haskell 1995, S.
80f. Für ein weiteres Beispiel vgl. ebd., S. 86.
65 Sci-iwartz 1989, bes. S. 96, 99, 102f., zufolge besteht die we-
sentliche Funktion von Tronien darin, innere Gemütsbewe-
gungen oder >Charakter< zum Ausdruck zu bringen. Zur
Beurteilung von Tronien als Manifestationen von Gemüts-
zuständen vgl. auch Gottwald 2006.
66 Vgl. Kat. 203, Taf. VI, 42, Kat. 214, Taf. 45, Kat. 217, Taf. 46,
Kat. 250, Taf. 53, Kat. 285, Taf. 60, Kat. 345, Taf. 74, Kat. 365,
Taf. 78, Kat. 392, Taf. V, 83, Kat. 421, Taf. 89.

in Leipzig (Museum der Bildenden Künste) [Kat. 219,
Taf. 47], der den Kopf in den Nacken wirft, oder Adri-
aen van Ostades vornüber gebeugter Lachender Bau-
er in Rotterdam (Museum Boijmans Van Beuningen)
[Kat. 366, Taf. 78] verdeutlichen. Seltener als lachende
Tronien sind Brustbilder oder Halbfiguren, die eine
weinende Figur zeigen. Als Beispiel für eine solche
kann die 1634 von van Vliet radierte Tronie [Kat. 540,
Taf. 111] angeführt werden, die auf die Judasfigur in
Rembrandts Gemälde des reuigen Judas von 1629
(Privatsammlung) [Kat. 388, Taf. 81] zurückgeht.67
Tronien wie Rembrandts >Selbstbildnis< mit Hals-
berge und Barett (Indianapolis, Museum of Art) [Kat.
390, Taf. IV, 83] oder Johannes Vermeers Mädchen
mit rotem Hut (Washington, National Gallery of
Art) [Kat. 532] sollten wahrscheinlich Überraschung
ausdrücken: Wie in einer spontanen Bewegung wen-
den sich die Dargestellten mit hochgezogenen Brau-
en und leicht geöffnetem Mund dem Betrachter zu.
Auch lesende, nachdenklich vor sich hin blickende
oder betende Tronien veranschaulichen eine bestimmte
Gemütsverfassung, indem sie in konzentrierte Kon-
templation, melancholische Nachdenklichkeit oder
inbrünstige Andacht versunken sind.68 Huygens’ oben
zitierte Ausführungen zu seinem eigenen Bildnis, auf
dem der Dargestellte gedankenverloren ins Leere
blickt, belegen, dass eine in sich gekehrt wirkende Figur
aus Sicht des zeitgenössischen Betrachters durchaus
emotional aufgeladen sein konnte.
Wie Franziska Gottwald zeigen kann, erinnert der
nachdenklich-introvertierte Gesichtsausdruck man-
cher Greisentromen an Karel van Manders Beschrei-
bung davon, wie ein Maler »inwendighe droefheyt«69
darzustellen habe.70 Van Mander hält insbesondere die
Stirn eines Menschen für einen »Verräter der Seele«:
»De Siel-wroegher71 / en t’aenschijn der ghedachten
Jae t’ Boeck des herten / om te lesen en proeven
Des Menschen ghemoedt: want kreucken en groeven
Daer bewiesen / dat in ons is verborghen
Eenen bedroefden gheest / benout / vol sorghen.«72
67 Zu van Vliets Radierung vgl. Bruyn 1982, S. 44f.; Kat. Ams-
terdam 1996, Kat. Nr. 9, S. 56f.
68 Vgl. Kat. 91, Taf. 16, Kat. 294, Taf. 62, Kat. 395, Taf. V, 84,
Kat. 448, Taf. 95, Kat. 529, Taf. 109, Kat. 300, 310, 456.
69 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 172 (fol. 26v).
70 Gottwald 2006, S. 167.
71 Von H. Miedema in Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 166,
Str. 29, übersetzt als »verrader van de ziel«.
72 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 167 (fol. 25r), Str. 29.
 
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