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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0361

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Tronien als Ausdrucksträger

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Laut van Hoogstraten konnte dieses Ziel vor
allem mittels der besonders naturgetreuen Wieder-
gabe eines Modells erreicht werden. Unter Verweis
auf Plutarch betont der Autor, dass Porträtmaler
nicht nur einige typische Merkmale der Physiogno-
mie eines Menschen - im Bildnis des Sokrates etwa
seinen kahlen Kopf, die platte Nase und die hervor-
quellenden Augen - wiedergeben, sondern vielmehr
alle Details des Gesichts genau beachten müssten.
Letztere gäben Plutarch zufolge Aufschluss über die
»zeedenaert«, also den Charakter eines Menschen.100
Van Hoogstraten empfiehlt den Malern daher: »Let
dan op die deelen, als of gy hären zeedenaert na-
speurde, maer met een schilderachtich oog, vaerdiger
tot uitbeelden, als tot uitspreeken.«101 Aus Sicht van
Hoogstratens offenbart sich das wahre Wesen einer
Person bzw. ihr Charakter in der bildlichen Darstel-
lung also erst durch das genaue Studium aller Teile
eines Gesichts und damit durch getreue Naturnach-
ahmung.
Die Fähigkeit hierzu konnten Künstler gerade bei
der Gestaltung von Tronien unter Beweis stellen: Das
Verbergen von Makeln oder schmeichelnde Idealisie-
rung, wie für Porträts unter Umständen gefordert,102
waren hier nicht notwendig. Vielmehr bezeugen
Tronien das Vermögen der Künstler zur Charakter-
darstellungs indem sie die physiognomischen Eigen-
heiten der Modelle in eindringlicher Weise vor Au-
gen führen. Bilder wie z.B. Lievens’ Bärtiger alter
Mann mit Mütze in Boston (Peck Collection) [Kat.
305, Taf. 64] verdeutlichen, dass sich dies bis hin zur
Darstellung des Hässlichen steigern konnte.
Das explizit Karikaturhafte allerdings wird in
niederländischen Tronien des 17. Jahrhunderts in der
Regel vermieden. Selbst Tronien, die Bauernköpfe
zeigen, sind meist nicht so stark überzeichnet, dass
sie als echte Karikaturen zu klassifizieren wären [Kat.
364-366, Taf. 78].103 Zwar weisen sie häufig typisier-
te Gesichtszüge auf, doch findet die These, dass die
Physiognomie von Tronien als aussagekräftig bezüg-
lich des Wesens und der Neigungen der dargestellten
Figuren betrachtet wurde, auch hierin Bestätigung.
Denn erst durch ihre grobschlächtigen und häss-
100 Vgl. oben, Kap. V.2.1, S. 327.
101 Hoogstraten 1678, S. 46. Etwas weiter oben fordert van
Hoogstraten die Maler auf: »laet het u niet genoeg zijn, in
‘t gros uw voorbeelt, of den persoon, dien gy konterfeyten
zult, aen te zien; maer onderzoek, met een keurich en vlij-
tich oog, welke schoonheden of byzondere bevallijkheden,
of wat weezentlijke mijnen gy daer in bevint te zijn, en volg

liehen Gesichter, zu denen Merkmale wie kleine Au-
gen mit hängenden Lidern, große, fleischige, krum-
me oder platte Nasen und breite, verzerrte Münder
gehören, wird der Charakter der Bauern als negativ
bestimmt und konnten entsprechende Tronien vom
Betrachter als Warnung vor lasterhaftem Verhalten
begriffen werden.
Geht man davon aus, dass Tronien das innere Wesen
der dargestellten Figuren sichtbar machten oder ma-
chen sollten, so unterstützt dies die bereits im vorhe-
rigen Kapitel diskutierte These, dass viele Tronien eine
erzieherische oder vorbildhafte Wirkung entfalten
konnten. Wir haben gesehen, dass Bildnisse berühmter
Persönlichkeiten gerade deshalb als nachahmenswerte
oder aber abschreckende exempla fungierten, weil man
die Taten und damit den Charakter der Dargestellten
kannte.104 Bringt das >Phantasieporträt< einer mit Blick
auf ihre Identität nicht genauer bestimmbaren Person,
d.h. eine Tronie, eine bestimmte charakterliche Ver-
anlagung des oder der Dargestellten zur Anschauung,
konnte sie ebenso wie das Bildnis einer bedeutenden
Persönlichkeit als positives oder negatives Beispiel
aufgefasst werden und damit zur Charakterbildung
des Betrachters beitragen.
Im Kapitel zur inhaltlichen Bedeutung von Tro-
nien wurde festgestellt, dass die ikonographische
Offenheit der Werke Spielraum für unterschied-
liche Identitätszuweisungen ließ, wobei Letztere an
den jeweils dargestellten Figurentyp gebunden wa-
ren. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die Deutung
einer Tronie auch davon abhing, in welcher Weise
em Betrachter die Gesichtszüge mit Blick auf den
Charakter des dargestellten Modells interpretierte.
Dabei ist vermutlich weniger mit einer detaillierten
Bestimmung einzelner Charaktereigenschaften als
vielmehr mit der Feststellung eines generell als negativ
oder positiv empfundenen Gesamteindrucks zu rech-
nen. Denn Tronien folgten keinen physiognomischen
Merkmalekatalogen, sie waren meist nach dem leben-
den Modell gemalt und konnten daher nicht im Sinne
physiognomischer Schemata >entziffert< werden. Selbst
wenn man nicht so weit gehen will anzunehmen,
dezelve met al uw krachten nae, zoo zal uw tronie leeven, en
een aerdigen geest krijgen.« (S. 45).
102 Vgl. oben, Kap. II.2.2, S. 84f.
103 Eine Ausnahme bilden die Bauernköpfe von Cornelis Dusart,
vgl. Kat. 113, Taf. 22.
104 Vgl. oben, Kap. V.l, S. 313.
 
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