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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0376

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348

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien


Abb. 68 Jacques Callot, Titelblatt mit der Inschrift Capricci di
varie Figure, Radierung, 1617 [Kat. 76]

der Begriff des Capriccio selbst nicht auftaucht, lehnt
der Meister sich doch offensichtlich bewusst an die
Tradition der aus dem florentimschen Kunstkreis
hervorgegangenen druckgraphischen Capricci an.93
Es ist nicht genau geklärt, welche Blätter zu Lie-
vens’ Serie der Diversen Tronikens gehörten.94 Doch
umfasste die Serie dem Format der Radierungen nach
zu urteilen wahrscheinlich Holl. 60-72, 88 (B. 39-51,
308) [Kat. 329, Kat. 330, Taf. 70] oder zumindest ei-
nen Teil dieser Blätter.95 Bemerkenswert ist, dass es
keinerlei Hinweise auf eine bestimmte Reihenfolge
der Tronien gibt. Sie sind weder nummeriert noch
lassen die unterschiedlichen Figurentypen in ihrer
Zusammenstellung auf eine inhaltliche oder formale
Systematik schließen. Vielmehr könnte man die Se-
rie beliebig verlängern oder verkürzen, ohne dass
ein Defizit oder em veränderter Sinngehalt für den
Betrachter erkennbar würde. Hierin besteht eine we-
sentliche Gemeinsamkeit zu den als Capricci konzi-

pierten Graphikfolgen, etwa Callots Capricci di varie
Ftgure. Kanz stellt fest, dass Letztere thematisch äu-
ßerst disparat seien und eine bestimmte Abfolge der
Radierungen oder auch nur ein feststehendes Zah-
lenverhältnis zwischen den einzelnen Motivgruppen
nicht auszumachen sei.96 Die gewählten Themen,
welche von Einzelfiguren über Hirten-, Bauern- und
Räuberszenen bis hin zu Darstellungen von Festen
und militärischen Schauplätzen reichen, folgen we-
der einem erzählerischen Ablauf noch einem ande-
ren Strukturprinzip. Ein Zusammenhalt wird einzig
durch Format und Technik der Blätter hergestellt.
Callots Serie ist damit als lockerer Verbund kaprizi-
öser Einfälle des Künstlers konzipiert, die sich des-
sen Phantasietätigkeit und damit seinem >kreativen
Eigensinn< verdanken.97 Gerade aus diesem Grund
verzichte der Meister Kanz zufolge darauf, sich nach
ikonographischen Vorgaben zu richten; in den Vor-
dergrund trete vielmehr die »Demonstration von
technischer Innovation und Virtuosität.«98
Auch bei Lievens hegt em wichtiger Akzent der
radierten Tronien auf dem meisterhaften Gebrauch
der Radiernadel. Darüber hinaus folgen die Figuren
keinem bekannten ikonographischen Thema, sondern
werden vom Künstler in scheinbar willkürlicher, also
kapriziöser Auswahl, einzig der eigenen künstleri-
schen Eingebung und Präferenz folgend, zusammen-
gestellt. Dabei entspringt die künstlerische Gestaltung
der Blätter ebenso der Imagination des Meisters wie
die Phantasiekostüme der Figuren. Wie Callots Cap-
ricci werden dem Betrachter auch Lievens’ Tronien als
Ausdruck schöpferischer Kreativität und Variations-
kraft sowie virtuoser Kunstfertigkeit präsentiert.99
Werner Busch zufolge war es der dem florenti-
nischen Kunstkreis angehörende Stefano della Bel-
la (1610-1664), der einzig aus Köpfen bestehende

93 Dass druckgraphische Blätter Callots bereits Anfang der drei-
ßiger Jahre in Leiden bekannt gewesen sein müssen, belegt
Rembrandts Auseinandersetzung mit dem Vorbild Callots in sei-
nen radierten Bettlerdarstellungen (vgl. z.B. Hollstein’s Dutch
and Flemish Etchings 1949ff., Bd. 18/19 (1969), Kat. Nr. B. 133,
150,151, 162-166,171,173-175, 177-179), die motivisch und sti-
listisch von Callots Bettlerserie Les Gueux von 1621/22 (Lieure
1924/27, Bd. 2, Kat. Nr. 479-503) beeinflusst sind, vgl. Bauch
1960, S. 152-168; Tümpel 1986, S. 71-74; H. Bevers in Kat. Ber-
lin / Amsterdam / London 1991/92b, Kat. Nr. 3, S. 174; Kat.
Amsterdam / London 2000/01, Kat. Nr. 6, S. 93f.
94 Schatborn 1988/89, S. 17.
95 Vgl. oben, Kap. 1.4, S. 31, bes. Anm. 143.

96 Kanz 2002, S. 251-257, bes. S. 251.
97 Zum Capriccio als Metapher für >kreativen Eigensinn« vgl.
Kanz 2002, bes. S. 12, 36-41, 161-173.
98 Kanz 2002, S. 251.
99 Dasselbe Phänomen lässt sich bei den Serien radierter Köpfe
in orientalisierender Kostümierung beobachten, die Giovan-
ni Benedetto Castighone (1609-1664) in den späten 1640er
Jahren in Anlehnung an radierte Tronien Rembrandts und
Lievens’ schuf. Ganz deutlich tritt auch hier das Interesse an
der Demonstration einer spezifischen, und zwar rembrand-
tesken Manier und technischer Meisterschaft in den Vorder-
grund. Vgl. Kat. Genua 1990, Kat. Nr. 68-84, S. 212-223.
 
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