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Illustrirte Melt.
Aus Natur und Leben.
Die Insel Elefantine.
Dem Reisenden, welcher mit dem Dampfer oder der Dahabije
im Hafen von Assuan, dem alten Syene, der Heimat des Syenits,
gelandet ist, kommt es vor, als ob der Nil hier sein Ende er-
reicht habe und das Schiff in einem schön abgerundeten Landsec
vor Anker gegangen sei. Denn rings umher, so weit das Auge
reicht, findet er die Scenerie durch Lgnd und Gebirge geschlossen,
dessen Gesteinmassen durch ihre braunrote Färbung eine eigen-
tümlich mit dem prächtigen Grün der Palmen kontrastirende
Wirkung ausüben. Hier ist die Stelle, wo das arabische Gebirge
nach Westen zu einen granitenen Riegel in jüngere Gesteinmassen
einschiebt, um den Lauf des Nil zu unterbrechen. Aber der
starke Strom hat es vermocht, beim ersten Katarakt, dessen
Rauschen schon bald hinter
Assuan hörbar wird, diese
Schranken zu durchbre-
chen. In diesem vermeint-
lichen Landsee liegt, der
Stadt Assuan gegenüber,
die Insel Elefantine, deren
wie ein Oleanderblatt ge-
staltete Fläche freund-
liches Grün auf Aeckern,
Sträuchern und Palmen-
bäumen trägt. Dieses
kleine, schöne Eiland hat
in der ältesten Zeit eine
bedeutende Rolle gespielt,
denn auf ihm stand der
Hauptort des altägyxti-
schen Gaues, der auch den
gleichen Namen führte wie
sie selbst, „Ab" (die Ele-
fanten- oder Elfenbein-
stätte), wahrscheinlich we-
gen des m seinen Hafen
massenweise einströmenden
wichtigsten Handelsarti-
kels des Sudan. Aber
schon zur Zeit der Byzan-
tiner, welche die Insel
Elefantine nannten, lief
ihr Syene, die Garnisons-
stadt aus dem östlichen
Ufer des Nil, die so recht
eigentlich an der Schwelle
Aegyptens gelegen, im
Aegyptischen den passen-
den Namen „Sun" (die
den Eingang Gewährende)
führte, den Rang ab, und
Elefantine verödete nach
und nach und ging end-
lich ganz zu Grunde. So
steht denn jetzt die Stätte
öde und verlassen, die
früher von den Straßen
und Gassen der auf den
Denkmälern vielgenann-
ten Elfenbeinstadt bedeckt
war. Die schönen Tempel,
welche einst der große
Tutmes und der dritte
Amenophis deni widder-
köpfigen Chnum und den
hier in Genieinschaft mit
ihm verehrten Katarakten-
göttinnen Sati und Anke
gegründet hatten, sind
jetzt ganz von dem Erd-
boden verschwunden, wäh-
rend noch vor wenigen
Jahrzehnten ihre Ueber-
reste von den Reisenden
bewundert werden konn-
ten. Ein Palast, den
Mehemed-Ali in Assuan
errichten ließ, führte zu
ihrer vollständigen Zer-
störung. Erhalten geblie-
ben sind nur ein grani-
tenes Thor und eine
Osirisstatue mit dem Na-
men des altägyptischen
Königs Menephtah I.
Einige elende Dörfer mit
halbnackten nubischen Bewohnern erheben sich jetzt auf der
einst jo belebten Stätte, an der jährlich herrliche siebentägige
Feste dem segenspendenden Strome gefeiert wurden, wobei die
Priester, wie griechische Berichterstatter erzählen, eine goldene
und eine silberne Schale, die sich vielleicht auf die Sonne und
den Mond bezogen, in die brausenden Wasser schleuderten. In
dieser Gegend, beim ersten Katarakt, dessen entferntes Brausen
manchmal vernehmlich ist, sollte ja nach dem Glauben der alten
Aegypter der heilige Stroni zwei Ouelllöchern entströmen, wäh-
rend seine südlichere Wiege dem Sterblichen ein Geheimnis blieb,
bis es ihm nach seinem Tode die Göttin Isis an der zwölften
Pforte der Unterwelt eröffnete. Mit dem Nil in engster Be-
ziehung steht auch das besterhaltene Denkmal der Insel, welches
hauptsächlich die Reisenden zu der kurzen, von Assuan aus nur
wenige Minuten in Anspruch nehmenden Nilfahrt mit der Feluka
veranlaßt. Es ist der alte, auf der Westseite der Insel gelegene
Nilmesjer aus der Pharaonenzeit, den ein gutes Geschick noch so
erhalten hatte, daß er von dem tüchtigen, in Europa gebildeten
Astronomen des Khedive, Mahmud Bei, wieder hergestellt und
dem öffentlichen Gebrauche von neuem übergeben werden konnte.
Wenn an diesem Messer der Nil 24 Elleiy und 3 Zoll anstieg,
dann erwartete man unter den Pharaonen eine günstige Ueber-
schwemmung. Am lohnendsten jedoch ist sür den Besucher Ele-
fantines eine Wanderung zu dem südlichen, nnt Schutt und
Scherben bedeckten Abhange des Eilands. Dort eröffnet sich dem
Auge des Beschauers ein ganz eigenartiges Bild von unbeschreib-
licher Wildnis und fesselndem Reize. Er schaut hinein in ein
weites Labyrinth von granitenen Klippen, welches sich zu seinen
Füßen ausbreitet. Zwischen ihnen hindurch hat sich der Nil ein
Bett gegraben. In viele größere und kleinere Arme geteilt,
schießt er an einigen Stellen mit rasender Geschwindigkeit dahin,
während an anderen seine Wasser träge weitergleiten oder, von
den Felsen aufgehalten, stillstehend die glühende Sonne in sich
spiegeln lassen. Das sind die nördlichen Ausläufer des ersten
Kataraktes, des letzten großen Hindernisses, ehe der Nil seine
braunen Fluten mit den blauen Mittelmeerwellen vermischt.
Ein merkwürdiger Fall vom Wechsel des Bewußtseins, welcher
in der medizinischen Welt großes Aufsehen erregt, wurde von
mehreren französischen Aerzten beobachtet. Dieselben haben diesen
seltenen Krankheitsfall wegen seines besonderen psychologischen
Interesses in medizinischen Zeitschriften veröffentlicht. Wir ent-
nehmen dem interessanten Bericht folgendes: Louis V., 1863
geboren, kam im Alter von zehn Jahren in eine Besserungs-
anstalt und erlernte daselbst das Schneiderhandwerk. Mit vier-
zehn Jahren erlitt er eine heftige Geniütsbewegung durch Schreck,
welchen ihm der Anblick einer Schlange eingeflößt hatte. Die
Folge war zunächst nur körperlich bemerkbar. Es stellten sich
epileptische Zustände ein und der Knabe wurde an den Beinen
gelähmt. Im Asyle von Bonneval, wohin man denselben über-
geführt hatte, setzte er sein Handwerk noch einige Monate fort.
Plötzlich bekam er einen epileptischen Anfall, während dessen er
fünfzig Stunden in Krämpfen und Bewußtlosigkeit zubrachte.
Vop diesem Unfall erwacht, war er nicht mehr gelähmt, hatte
aber sein Schneiderhandwerk gänzlich vergessen und seinen guten
Charakter vollständig eingebüßt. Er wurde heftig, zanksüchtig
und unmäßig; vorher sehr nüchtern, trank er jetzt nicht nur seinen
Wein, sondern stahl solchen auch. Er flüchtete von Bonneval
und erschien nach zwei stürmisch durchlebten Jahren, in welchen
er hin und wieder im Spital und im Irrenhaus gewesen, im
Asyl von Rochefort als Marinesoldat; er war des Diebstahls
angeklagt, aber für geistesgestört erklärt worden. Hier kam er
in die Behandlung der Professoren Bourru und Burot, sowie
des Or. Mabille, welche die Beobachtungen von Or. Camuset
in Bonneval und Dr. Voisin in Paris fortsetzten. Gegenwärtig
ist Louis V. aus der Rocheforter Anstalt entlassen, und vr. Burot
schildert seinen Zustand als beinahe völlig wiederhergestellt. Die
Erscheinungen, welche beobachtet wurden, bevor die lange Reihe
von Experimenten zu seiner Heilung begann, waren kurz folgende:
Die rechte Seite war völlig gelähmt, die Sprache undeutlich und
schwer. Trotzdem schwatzte er fortwährend teils über Politik,
teils über Atheismus und so weiter. Seine Erinnerungen um-
faßten nur die letzten Er-
eignisse ini Asyle zu Roche-
fort, weiter zurück, die
Zeit seines schlechten Cha-
rakters in Bonneval und
einen Teil seines Aufent-
halts in Paris. Die Aerzte
in Rochefort, welche den
Einfluß der Metalle in
derartigen Fällen kannten,
experimentirten in dieser
Hinsicht mit ihm und fan-
den, daß Stahl, an seinen
rechten Arm gebracht, die
ganze Lähmung von der
rechten Seite auf die linke
Seite überleitete. Mit
diesem Austausch verän-
derte sich aber zum großen
Erstaunen aller auch seine
ganze Persönlichkeit. War
die etwa eine Minute
dauernde Krisis, welche
das Berühren mit Stahl
hervorrief, vorüber, fo
war V. sozusagen ein ganz
anderer Mensch; der rauhe
und wilde Charakter hatte
dann einem sanften und
ruhigen Benehmen Platz
gemacht, auch war die
Sprache fließend gewor-
den. Wird er aber dann
über Rochefort gefragt, so
antwortet er, daß er nichts
davon wisse und nie dort
gewesen sei. Auf die
Frage: „Wo bist Du
denn, und welches Datum
ist denn heute?" antwortet
er (während er sich in
Rochefort befand): „Ich
bin in Paris, es ist heute
der soundsovielte. In
diesem Zustande erinnert
er sich nur der zwei Perio-
den seines Lebens, wäh-
rend welcher seine Läh-
mung auf der linken Seite
und sein Charakter gut und
sanft gewesen. Wie dieses
nun zwei vollständig von
einander unabhängige Zu-
stände waren, so konnte
er in sechs derartige Sta-
dien versetzt werden. So
schien er zum Beispiel in
einem elektrischen Bade,
oder wenn ein Magnet
aus seinen Kops gebracht
wurde, vollständig geheilt,
indem die Lähmung ganz
verschwand, die Sprache
deutlich und seine Bewe-
gungen leicht und behende
waren. Doch auf die
Frage, wo er sei, fand
man ihn in die Zeit seiner
Kindheit vor dem vier-
zehnten Jahre zurückge-
kehrt, als er in der
Besserungsanstalt zu St.
Voisin lebte. Seine Er-
innerung war dann vollständig diejenige seines Knabenalters
und reichte bis zu dem verhängnisvollen Augenblick seines Er-
schreckens vor der Schlange. Erinnerte man ihn daran, so
machte ein heftiger epileptischer Krampf dieseni Zustande ein Ende
und ein anderer erschien. Wurde nun künstlich das Gleichgewicht
in diesem sonderbaren Wesen hergestellt, das heißt ward er da-
durch in einen Zustand gebracht, in welchem keine Spur mehr
von der psychischen Trennung, welche ihm zur zweiten Natur
geworden, vorhanden war, so trat ein sehr überraschender Zu-
stand ein: er war sozusagen wie neugeboren und wie ein kleines
Kind. Erinnerung, Charakter, Kenntnis und Kraft waren die
der allerersten Zeit seiner Kindheit. Eine derartige Beobachtung
eines Menschen, bei welchem der seelische und körperliche Zustand
in so wunderbarer Weise mit einander abwechselten und ins
gerade Gegenteil verändert wurden, ist bisher niemals gemacht.
Man würde diesen sonderbaren Wechsel auch nicht für möglich
halten, wenn derselbe nicht von mehreren anerkannten Aerzten
mit peinlichster Genauigkeit beschrieben worden wäre.
Die Insel Elefantine. Zeichnung von H. Fenn.
Der Wechsel des Bewußtseins.
Illustrirte Melt.
Aus Natur und Leben.
Die Insel Elefantine.
Dem Reisenden, welcher mit dem Dampfer oder der Dahabije
im Hafen von Assuan, dem alten Syene, der Heimat des Syenits,
gelandet ist, kommt es vor, als ob der Nil hier sein Ende er-
reicht habe und das Schiff in einem schön abgerundeten Landsec
vor Anker gegangen sei. Denn rings umher, so weit das Auge
reicht, findet er die Scenerie durch Lgnd und Gebirge geschlossen,
dessen Gesteinmassen durch ihre braunrote Färbung eine eigen-
tümlich mit dem prächtigen Grün der Palmen kontrastirende
Wirkung ausüben. Hier ist die Stelle, wo das arabische Gebirge
nach Westen zu einen granitenen Riegel in jüngere Gesteinmassen
einschiebt, um den Lauf des Nil zu unterbrechen. Aber der
starke Strom hat es vermocht, beim ersten Katarakt, dessen
Rauschen schon bald hinter
Assuan hörbar wird, diese
Schranken zu durchbre-
chen. In diesem vermeint-
lichen Landsee liegt, der
Stadt Assuan gegenüber,
die Insel Elefantine, deren
wie ein Oleanderblatt ge-
staltete Fläche freund-
liches Grün auf Aeckern,
Sträuchern und Palmen-
bäumen trägt. Dieses
kleine, schöne Eiland hat
in der ältesten Zeit eine
bedeutende Rolle gespielt,
denn auf ihm stand der
Hauptort des altägyxti-
schen Gaues, der auch den
gleichen Namen führte wie
sie selbst, „Ab" (die Ele-
fanten- oder Elfenbein-
stätte), wahrscheinlich we-
gen des m seinen Hafen
massenweise einströmenden
wichtigsten Handelsarti-
kels des Sudan. Aber
schon zur Zeit der Byzan-
tiner, welche die Insel
Elefantine nannten, lief
ihr Syene, die Garnisons-
stadt aus dem östlichen
Ufer des Nil, die so recht
eigentlich an der Schwelle
Aegyptens gelegen, im
Aegyptischen den passen-
den Namen „Sun" (die
den Eingang Gewährende)
führte, den Rang ab, und
Elefantine verödete nach
und nach und ging end-
lich ganz zu Grunde. So
steht denn jetzt die Stätte
öde und verlassen, die
früher von den Straßen
und Gassen der auf den
Denkmälern vielgenann-
ten Elfenbeinstadt bedeckt
war. Die schönen Tempel,
welche einst der große
Tutmes und der dritte
Amenophis deni widder-
köpfigen Chnum und den
hier in Genieinschaft mit
ihm verehrten Katarakten-
göttinnen Sati und Anke
gegründet hatten, sind
jetzt ganz von dem Erd-
boden verschwunden, wäh-
rend noch vor wenigen
Jahrzehnten ihre Ueber-
reste von den Reisenden
bewundert werden konn-
ten. Ein Palast, den
Mehemed-Ali in Assuan
errichten ließ, führte zu
ihrer vollständigen Zer-
störung. Erhalten geblie-
ben sind nur ein grani-
tenes Thor und eine
Osirisstatue mit dem Na-
men des altägyptischen
Königs Menephtah I.
Einige elende Dörfer mit
halbnackten nubischen Bewohnern erheben sich jetzt auf der
einst jo belebten Stätte, an der jährlich herrliche siebentägige
Feste dem segenspendenden Strome gefeiert wurden, wobei die
Priester, wie griechische Berichterstatter erzählen, eine goldene
und eine silberne Schale, die sich vielleicht auf die Sonne und
den Mond bezogen, in die brausenden Wasser schleuderten. In
dieser Gegend, beim ersten Katarakt, dessen entferntes Brausen
manchmal vernehmlich ist, sollte ja nach dem Glauben der alten
Aegypter der heilige Stroni zwei Ouelllöchern entströmen, wäh-
rend seine südlichere Wiege dem Sterblichen ein Geheimnis blieb,
bis es ihm nach seinem Tode die Göttin Isis an der zwölften
Pforte der Unterwelt eröffnete. Mit dem Nil in engster Be-
ziehung steht auch das besterhaltene Denkmal der Insel, welches
hauptsächlich die Reisenden zu der kurzen, von Assuan aus nur
wenige Minuten in Anspruch nehmenden Nilfahrt mit der Feluka
veranlaßt. Es ist der alte, auf der Westseite der Insel gelegene
Nilmesjer aus der Pharaonenzeit, den ein gutes Geschick noch so
erhalten hatte, daß er von dem tüchtigen, in Europa gebildeten
Astronomen des Khedive, Mahmud Bei, wieder hergestellt und
dem öffentlichen Gebrauche von neuem übergeben werden konnte.
Wenn an diesem Messer der Nil 24 Elleiy und 3 Zoll anstieg,
dann erwartete man unter den Pharaonen eine günstige Ueber-
schwemmung. Am lohnendsten jedoch ist sür den Besucher Ele-
fantines eine Wanderung zu dem südlichen, nnt Schutt und
Scherben bedeckten Abhange des Eilands. Dort eröffnet sich dem
Auge des Beschauers ein ganz eigenartiges Bild von unbeschreib-
licher Wildnis und fesselndem Reize. Er schaut hinein in ein
weites Labyrinth von granitenen Klippen, welches sich zu seinen
Füßen ausbreitet. Zwischen ihnen hindurch hat sich der Nil ein
Bett gegraben. In viele größere und kleinere Arme geteilt,
schießt er an einigen Stellen mit rasender Geschwindigkeit dahin,
während an anderen seine Wasser träge weitergleiten oder, von
den Felsen aufgehalten, stillstehend die glühende Sonne in sich
spiegeln lassen. Das sind die nördlichen Ausläufer des ersten
Kataraktes, des letzten großen Hindernisses, ehe der Nil seine
braunen Fluten mit den blauen Mittelmeerwellen vermischt.
Ein merkwürdiger Fall vom Wechsel des Bewußtseins, welcher
in der medizinischen Welt großes Aufsehen erregt, wurde von
mehreren französischen Aerzten beobachtet. Dieselben haben diesen
seltenen Krankheitsfall wegen seines besonderen psychologischen
Interesses in medizinischen Zeitschriften veröffentlicht. Wir ent-
nehmen dem interessanten Bericht folgendes: Louis V., 1863
geboren, kam im Alter von zehn Jahren in eine Besserungs-
anstalt und erlernte daselbst das Schneiderhandwerk. Mit vier-
zehn Jahren erlitt er eine heftige Geniütsbewegung durch Schreck,
welchen ihm der Anblick einer Schlange eingeflößt hatte. Die
Folge war zunächst nur körperlich bemerkbar. Es stellten sich
epileptische Zustände ein und der Knabe wurde an den Beinen
gelähmt. Im Asyle von Bonneval, wohin man denselben über-
geführt hatte, setzte er sein Handwerk noch einige Monate fort.
Plötzlich bekam er einen epileptischen Anfall, während dessen er
fünfzig Stunden in Krämpfen und Bewußtlosigkeit zubrachte.
Vop diesem Unfall erwacht, war er nicht mehr gelähmt, hatte
aber sein Schneiderhandwerk gänzlich vergessen und seinen guten
Charakter vollständig eingebüßt. Er wurde heftig, zanksüchtig
und unmäßig; vorher sehr nüchtern, trank er jetzt nicht nur seinen
Wein, sondern stahl solchen auch. Er flüchtete von Bonneval
und erschien nach zwei stürmisch durchlebten Jahren, in welchen
er hin und wieder im Spital und im Irrenhaus gewesen, im
Asyl von Rochefort als Marinesoldat; er war des Diebstahls
angeklagt, aber für geistesgestört erklärt worden. Hier kam er
in die Behandlung der Professoren Bourru und Burot, sowie
des Or. Mabille, welche die Beobachtungen von Or. Camuset
in Bonneval und Dr. Voisin in Paris fortsetzten. Gegenwärtig
ist Louis V. aus der Rocheforter Anstalt entlassen, und vr. Burot
schildert seinen Zustand als beinahe völlig wiederhergestellt. Die
Erscheinungen, welche beobachtet wurden, bevor die lange Reihe
von Experimenten zu seiner Heilung begann, waren kurz folgende:
Die rechte Seite war völlig gelähmt, die Sprache undeutlich und
schwer. Trotzdem schwatzte er fortwährend teils über Politik,
teils über Atheismus und so weiter. Seine Erinnerungen um-
faßten nur die letzten Er-
eignisse ini Asyle zu Roche-
fort, weiter zurück, die
Zeit seines schlechten Cha-
rakters in Bonneval und
einen Teil seines Aufent-
halts in Paris. Die Aerzte
in Rochefort, welche den
Einfluß der Metalle in
derartigen Fällen kannten,
experimentirten in dieser
Hinsicht mit ihm und fan-
den, daß Stahl, an seinen
rechten Arm gebracht, die
ganze Lähmung von der
rechten Seite auf die linke
Seite überleitete. Mit
diesem Austausch verän-
derte sich aber zum großen
Erstaunen aller auch seine
ganze Persönlichkeit. War
die etwa eine Minute
dauernde Krisis, welche
das Berühren mit Stahl
hervorrief, vorüber, fo
war V. sozusagen ein ganz
anderer Mensch; der rauhe
und wilde Charakter hatte
dann einem sanften und
ruhigen Benehmen Platz
gemacht, auch war die
Sprache fließend gewor-
den. Wird er aber dann
über Rochefort gefragt, so
antwortet er, daß er nichts
davon wisse und nie dort
gewesen sei. Auf die
Frage: „Wo bist Du
denn, und welches Datum
ist denn heute?" antwortet
er (während er sich in
Rochefort befand): „Ich
bin in Paris, es ist heute
der soundsovielte. In
diesem Zustande erinnert
er sich nur der zwei Perio-
den seines Lebens, wäh-
rend welcher seine Läh-
mung auf der linken Seite
und sein Charakter gut und
sanft gewesen. Wie dieses
nun zwei vollständig von
einander unabhängige Zu-
stände waren, so konnte
er in sechs derartige Sta-
dien versetzt werden. So
schien er zum Beispiel in
einem elektrischen Bade,
oder wenn ein Magnet
aus seinen Kops gebracht
wurde, vollständig geheilt,
indem die Lähmung ganz
verschwand, die Sprache
deutlich und seine Bewe-
gungen leicht und behende
waren. Doch auf die
Frage, wo er sei, fand
man ihn in die Zeit seiner
Kindheit vor dem vier-
zehnten Jahre zurückge-
kehrt, als er in der
Besserungsanstalt zu St.
Voisin lebte. Seine Er-
innerung war dann vollständig diejenige seines Knabenalters
und reichte bis zu dem verhängnisvollen Augenblick seines Er-
schreckens vor der Schlange. Erinnerte man ihn daran, so
machte ein heftiger epileptischer Krampf dieseni Zustande ein Ende
und ein anderer erschien. Wurde nun künstlich das Gleichgewicht
in diesem sonderbaren Wesen hergestellt, das heißt ward er da-
durch in einen Zustand gebracht, in welchem keine Spur mehr
von der psychischen Trennung, welche ihm zur zweiten Natur
geworden, vorhanden war, so trat ein sehr überraschender Zu-
stand ein: er war sozusagen wie neugeboren und wie ein kleines
Kind. Erinnerung, Charakter, Kenntnis und Kraft waren die
der allerersten Zeit seiner Kindheit. Eine derartige Beobachtung
eines Menschen, bei welchem der seelische und körperliche Zustand
in so wunderbarer Weise mit einander abwechselten und ins
gerade Gegenteil verändert wurden, ist bisher niemals gemacht.
Man würde diesen sonderbaren Wechsel auch nicht für möglich
halten, wenn derselbe nicht von mehreren anerkannten Aerzten
mit peinlichster Genauigkeit beschrieben worden wäre.
Die Insel Elefantine. Zeichnung von H. Fenn.
Der Wechsel des Bewußtseins.