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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 20.1909

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Widmer, Karl: Über den Wert der Originalität
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https://doi.org/10.11588/diglit.7500#0158

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136 INNEN-DEKO RATION

GEH. STADTBAURAT L. HOFFMA.NN — BERLIN.

Innungs-Saal im Märkischen Museuti

daß diese Aufgabe durch die künstlerisch anspruchs-
vollen Schöpfungen einer exklusiven Künstlerphantasie
allein nicht gelöst werden kann. Das schwere Gold,
das aus diesen Schächten hervorgebracht wird, muß
vielmehr gemünzt werden, um seine Kulturzwecke zu
erfüllen. Die Kunst muß sich dem allgemeinen Niveau
unserer realen Lebensbedingungen anpassen, um alle
Schichten der äußern Kultur zu durchdringen. Alle
Zeichen der Zeit deuten darauf hin, daß diese Aufgabe
heute wichtiger ist als jede andere. Auf das Blütenalter
der neuen Kunst muß notwendiger Weise die Zeit der
Reife und des Erntens kommen.

Damit ist schon ausgesprochen, daß der Originali-
tätswert nicht der einzige und vom allgemeinen Stand-
punkt der Kulturentwicklung aus vielleicht nicht einmal
der höhere Wert einer Schöpfung der angewandten Kunst
ist. Um das Gesetz ihrer sozialen Bestimmung zu er-
füllen, muß die Kunst zu einer Art von Lebensform
werden, die wie unsere gesellschaftlichen Formen den
Charakter des Konventionellen nicht verleugnen darf.
Denn ohne Konvention ist keine Kultur möglich und
kein Stil, der ja nur der sinnliche Ausdruck der gemein-
samen Charakterzüge eines Kulturzeitalters ist. Hier sind
denn auch die Grenzen gegeben, in denen sich die künst-
lerische Originalität ausleben darf. Nur in besonderen
Fällen darf sie sich gegen die Konvention auflehnen —
vor allem in Zeiten, in denen eine erstarrende Konvention
zu einer Fessel des lebendigen Fortschritts geworden ist.

Darin liegt nun eine doppelte Mahnung: an die
Künstler wie an das Publikum. Auch die Kunst ist nicht
berechtigt, sich über das Bedürfnis des Beharrens un-
bedingt hinwegzusetzen und die Notwendigkeit eines
Ausgleichs zwischen den Rechten der künstlerischen Frei-
heit und den sozialen Gesetzen der Konvention schlecht-
weg zu leugnen. Und auch der empfangende Teil der
Menschheit muß sich hüten, in den Erscheinungen des
künstlerischen Fortschritts lediglich die Befriedigung der
Modesucht und des Sensationsbedürfnisses zu suchen:
ein Irrtum, durch den die beweglichen und für das Neue
empfänglichen Elemente des Publikums dem gesunden
Fortschritt ebensosehr schaden können wie die ablehnen-
den und rückschrittlichen. Und unsere Zeit der über-
hasteten Produktion und Umwertung aller Werte, mit
ihrem Ausstellungswesen, ihrem Reklamewesen, ihrer
gesteigerten Konkurrenz, in der das Neue so leicht als
der Feind des Bessern auftritt, ist den Entartungen der
Originalitätssucht günstiger als jede andere. Hier müssen
alle Teile: Schaffende, Verkäufer und Käufer zusammen-
wirken, um durch die Einsicht in die Bedingungen eines
gesunden Fortschritts diesen Gefahren entgegenzuarbeiten.
Nur der Ausgleich zwischen Freiheit und Gebundenheit,
zwischen Originalität und Konvention führt zu einer ge-
deihlichen Entwicklung. Darum ist es aber auch Auf-
gabe einer ernsten Kritik, auf die Notwendigkeit des
einen wie des andern gleich nachdrücklich hinzuweisen.

KARLSRUHE-BADEN. PROFESSOR KARL WIDMER.
 
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