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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 49.1938

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Michel, Wilhelm: Vom Sinn und Gesetz des kulturellen Ringens
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https://doi.org/10.11588/diglit.10945#0079

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VOM SINN UND GESETZ DES KULTURELLEN RINGENS

Kultur ist uns nicht gegeben als Zustand und
dauernder Besitz, sondern nur als ständiger
Kampf gegen gestaltfeindliche Mächte. Kultur ist nur
wirklich als täglich wiederholtes Ringen und Mühen
der Gemeinschaft. Was ist das Ziel in diesem Kampf?
— Die Erreichung und Festhaltung des der Gemein-
schaft gesetzten Maßes. Über der Kulturgeschichte
jedes Volkes steht als Leitwort: Werde, der du bist!
Inhalt der Kulturgeschichte eines Volkes ist stets: Ein
Volk kommt zu sich selbst. Es stellt sein Wesen dar in
seiner Lebensgestaltung. Es macht seinen Staat und
seine Wirtschaft, seine Lebenshaltung und seine
Wohnhäuser zu einem wahren Abbild seines eignen
Charakters.

Nicht nur zwischen Volk und Volk, sondern schon
zwischen Stamm und Stamm zeigen sich da die Unter-
schiede. Das Merkmal der fränkischen Hofanlage ist
die saubere Gliederung, die das gesamte Hauswesen in
Funktionen zerlegt und deren Behausungen zu einem
ineinandergreifenden Gefüge ordnet. Das Wohnhaus
links, die Stallungen rechts, hinten als Querriegel die
Scheune mit der Tenne, vorn das verbindende und
schließende Tor - so entfaltet sich das Ganze in klaren
Absetzungen. Eben damit spiegelt diese Hofanlage
getreu den fränkischen Charakter, in welchem sich
ein entwickeltes Bewußtsein und Ichgefühl geltend
macht, infolgedessen eine gewisse Gegensätzlichkeit
zwischen Verstand und Gefühl, Wohnraum und Ar-
beitsraum, Menschenbezirk und Tierbereich. Wenn
dagegen der niedersächsische Bauernhof Menschen
und Haustiere, Wohnung und Scheune, Prunkstube
und Stallungen unter ein großes, behütendes Dach
nimmt, so kommt darin die gebundenere Menschen-
form dieses Stammes unmittelbar zum Ausdruck.
Auch diese Menschenform kennt eine Gliederung;
aber das Bindende und Einheitliche, das innerliche
Zusammenhängen bleibt dabei das Entscheidende.
Der fränkische Hof errichtet seine Einheit als Lei-
stung eines herrschenden und ordnenden Willens.
Der Hof des Niedersachsen - auch des Alemannen
und Oberbayern — bietet die Einheit noch als Natur-
geschenk dar und bringt innerhalb derselben die
Gliederung zur Geltung. In beiden Fällen stehen wir
vor kultureller Tat: der Mensch, die Stammesart hat
sich vollgültig in reifer Form ausgewirkt.

Im Charakter, d. h. in der Menschenform eines Vol-
kes ist also das Maß gesetzt, dem seine Kultur zu ent-
sprechen hat und unter das diese Kultur nicht her-
untergehen darf. Damit ist etwas Schwerwiegendes
ausgesprochen. Das Heruntergehen unter das eigne
Maß erscheint nicht immer als »Verwilderung«, als
Rückfall in Primitivität. Es erscheint unter Umstän-
den auch als Eindringen einer unorganischen Über-

feinerung. Auf großartige und furchtbare Weise stellt
sich dies dar in dem Riesenunternehmen Alexanders
desGroßen, zwischen Europa undAsien eine politisch-
kulturelle Synthese zu schaffen. Nicht Übermut, son-
dern klar erkannte Zwänge der Machtpolitik riefen
Alexander zur Durchführung des Kampfes gegen das
Perserreich, den schon sein nüchtern denkender Vater,
Philipp von Makedonien, ins Werk gesetzt hatte. Er
siegte, und gerade seine märchenhaften Triumphe
führten das griechische Menschentum in die Wirbel
und Verkettungen, in denen es versinken sollte. Alex-
anders Einsicht war, daß die eroberte Herrschaft in
Asien nur unter Anerkennung der besiegten Perser als
Staatsvolk bestehen konnte; und das konnte nur ge-
schehen unter teilweiser Anerkennung ihrer Kultur
und Sitte. War dies machtpolitisch richtig gedacht, so
setzte es doch die von den Makedoniern getragene
griechische Menschenform einem furchtbaren Anprall
dumpfer asiatischer Instinkte aus, einer schwülen
Naturverfallenheit und einem methodisch hochent-
wickelten Triebleben, welche die in Griechenland er-
rungene Geistesfreiheit aufs schwerste in Frage stellen
mußten. Alexander wurde dadurch zum strahlendsten
Helden seines Volkes, aber auch zum endgültigen
Verschwender griechischer Substanz.

Aus diesem weltgeschichtlichen Beispiel kann ge-
lesen werden, was gemeint ist, wenn wir hier die
»Menschengestalt« eines Volkes das Maß seiner Kultur
nennen. Die Menschengestalt eines Volkes ist dessen
seelische Struktur, d. h. die bestimmte Ordnung, in
der bei ihm Bewußtsein und Leidenschaft, Verstand
und Trieb, Geist und Natur zusammenleben. Diese
Ordnung ist sehr empfindlich; und weil Störungen
dieser Ordnung jedesmal die Existenz des betreffenden
Volkes gefährden, deshalb ist die kulturelle Wacht in
einer Gemeinschaft von höchster Wichtigkeit. Wo wir
Völker in der Geschichte sterben sehen, da erfolgt zu-
nächst durch kulturellen Fehllauf der Zerfall der
moralischen Substanz, an den sich dann der politische
Zerfall anschließt.

Was die deutsche Menschenform anlangt, so ist für
sie entscheidend die tiefe ursprüngliche Liebe, die in
ihr zwischen Geist und Natur besteht. Ewig wird es
die Marke jeder echt deutschen Kultur sein, daß in
ihren Gebilden der naturhafte Werkstoff und der for-
mende Gedanke, das naturgegebene Volkswesen und
der zivilisatorische Wille, die Idee der Schönheit und
die Idee des Lebensdienstes zu einem ungezwungenen
Ausgleich kommen. Deutsch ist weder die Überbeto-
nung des Verstandesmäßigen noch des Ästhetischen
noch des Elementaren; deutsch ist das ungebrochene,
gesunde Leben, in dem alle diese Mächte freiwillig
und verschwistert zusammenwirken, wilhelm michel
 
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