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Michel, Wilhelm: Rede über das Nüchterne
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.10945#0350
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I NNEN-DEKORATI ON
REDE ÜBER DAS NÜCHTERNE
Die Worte der Sprache sind festgemachte Werte
der Menschenwelt«, pflegte ein Lehrer zu sagen,
der meine frühen humanistischen Schuljahre be-
treute. Es entsprach dieser Grundanschauung, daß
dieser Mann uns kleine Tertianer häufig zu Ausflügen
auf das etymologische Gebiet mitnahm. Er erklärte
uns viele Wörter nach ihrer Herkunft und ihrem all-
mählichen Werden. Er zeigte uns, was alles an Ge-
schichte, an genauer Lebensbeobachtung in den Wör-
tern steckt, er lehrte sie uns betrachten als Behälter,
die oft einen außerordentlichen Inhalt an Vorgängen
und Werten in sich fassen; er weckte damit eine Be-
geisterung für das Wunder der Muttersprache in uns,
die manchen für das ganze Leben treu blieb. Einmal
kam er auch auf das Wort »nüchtern« zu sprechen und
gab uns seine Ableitung: es stammt von dem lateini-
schen Beiwort »nocturnus« (= »nächtlich«) ab und be-
zeichnet den Zustand und die Zeit ums Morgengrauen,
wo der Mensch noch ungegessen und ungetrunken ist.
In dieser Bedeutung wird das Wort bekanntlich heute
noch vielfach verwendet; »morgens, noch nüchtern«
tun wir die ersten Arbeiten des Tageslaufes.
Aber das Wort geht dann sogleich über den Bereich
der bloß körperlichen Verfassung hinaus und zielt auf
den Gemütszustand, der ihr entspricht. Nüchternheit
bezeichnet die schöne geistige Klarheit der Morgen-
stunde, in der sich alles rauschlos, einfach und greif-
bar darstellt und das Denken den größten Grad seiner
Wachheit besitzt. Die Perser, so erzählen alte Histo-
riker, faßten abends beim Becher kühne Beschlüsse;
aber morgens in der Ernüchterung überprüften sie
dieselben und führten sie erst aus, wenn sie dieser
I NNEN-DEKORATI ON
REDE ÜBER DAS NÜCHTERNE
Die Worte der Sprache sind festgemachte Werte
der Menschenwelt«, pflegte ein Lehrer zu sagen,
der meine frühen humanistischen Schuljahre be-
treute. Es entsprach dieser Grundanschauung, daß
dieser Mann uns kleine Tertianer häufig zu Ausflügen
auf das etymologische Gebiet mitnahm. Er erklärte
uns viele Wörter nach ihrer Herkunft und ihrem all-
mählichen Werden. Er zeigte uns, was alles an Ge-
schichte, an genauer Lebensbeobachtung in den Wör-
tern steckt, er lehrte sie uns betrachten als Behälter,
die oft einen außerordentlichen Inhalt an Vorgängen
und Werten in sich fassen; er weckte damit eine Be-
geisterung für das Wunder der Muttersprache in uns,
die manchen für das ganze Leben treu blieb. Einmal
kam er auch auf das Wort »nüchtern« zu sprechen und
gab uns seine Ableitung: es stammt von dem lateini-
schen Beiwort »nocturnus« (= »nächtlich«) ab und be-
zeichnet den Zustand und die Zeit ums Morgengrauen,
wo der Mensch noch ungegessen und ungetrunken ist.
In dieser Bedeutung wird das Wort bekanntlich heute
noch vielfach verwendet; »morgens, noch nüchtern«
tun wir die ersten Arbeiten des Tageslaufes.
Aber das Wort geht dann sogleich über den Bereich
der bloß körperlichen Verfassung hinaus und zielt auf
den Gemütszustand, der ihr entspricht. Nüchternheit
bezeichnet die schöne geistige Klarheit der Morgen-
stunde, in der sich alles rauschlos, einfach und greif-
bar darstellt und das Denken den größten Grad seiner
Wachheit besitzt. Die Perser, so erzählen alte Histo-
riker, faßten abends beim Becher kühne Beschlüsse;
aber morgens in der Ernüchterung überprüften sie
dieselben und führten sie erst aus, wenn sie dieser