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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 49.1938

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Michel, Wilhelm: Rede über das Nüchterne
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https://doi.org/10.11588/diglit.10945#0351

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Prüfung standgehalten hatten. Im selben Sinne steht
für uns heute noch die »nüchterne« Betrachtung, das
nüchterne Urteil in Ehren; wir meinen damit die
rausch- und illusionslose Wachheit unsres Geistes, in
der wir auf der Höhe unsres Menschentums sind. In
diesem Sinne genommen, erhebt sich die Nüchtern-
heit zum Rang einer hohen Tugend, ja eines mensch-
lichen Vollendungszustandes. Sie berührt sich mit der
»Besonnenheit« der alten Griechen, mit der »sophro-
syne«, die dem hellenischen Volke als das eigent-
liche Zeichen der Menschenwürde und des Men-
schenmaßes galt. Gerade weil die Kräfte der Begei-
sterung, des entraffenden, hinreißenden und gefähr-
lichen »enthusiasmös« in diesem Volke sehr stark
waren, entwickelte sich in ihm jene hohe Wertschät-
zung der Überlegung, der »denkenden« Betrachtung,
der »edlen Vernunft«, welche überall aus der griechi-
schen Philosophie und namentlich aus der griechi-
schen Tragödie leuchtet. Der Gang einer griechischen
Tragödie ist jedesmal der Weg eines Helden aus der
»Vermessenheit« zur Besinnung, zur Ernüchte-
rung; in der Ernüchterung stellt sich das »Menschen-
maß«, welches die Hybris überschritten hatte, wieder

her. Vielleicht schöner als jeder Grieche hat unser
Hölderlin diese Beziehung gefaßt in dem Worte: »Da
wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Grenze
deiner Begeisterung«. In platten Worten sagt dieser
Satz: Begeisterung darf nie dazu führen, daß sie die
Bewußtseinsklarheit überrauscht. Und im Hinter-
grunde führt dieser Satz dann die hohe Wahrheit mit
sich: Begeisterung und Nüchternheit schließen ein-
ander nicht aus, vielmehr geben sie sich im kraft-
vollen Menschentum wechselseitig das Maß. Hölder-
lin meint mit der Nüchternheit, die dem Menschen nie
verlorengehen darf, nicht etwa die schwunglose, dürf-
tige Trockenheit des Gemütes, die nichts Hohes
kennt; sondern er meint die letzte geistige Gefaßtheit
der Menschenform, die überhaupt erst in einer »begei-
sterten Nüchternheit« zur Erfüllung kommt.

Hier meldet sich etwas an, das in jeder Betrachtung
über die Nüchternheit eine wesentliche Rolle spielen
muß. Unser Wort »Nüchternheit« faßt auch jenen Zu-
stand in sich, der allem geistigen Schwung ferne ist
und einen Mangel bedeutet: die Nüchternheit der
Gefängniszelle, die Nüchternheit der niedrigen, nur
am greifbaren Nutzen klebenden Seele. Man kann

1938. X. 2
 
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