MALER UND KÜNSTLER
Von Benno Rüttenauer
FNenn man bringt es mit dem besten Willen — unterscheiden, wovon der eine vom An-
" ' nicht fertig, zu erklären, wieso ein Maler fang des 16. Jahrhunderts rückläufig zu ver-
mehr als ein Maler sein kann, wenn man bei folgen ist, bis hinauf, wo im Anfang alles wüst
seinen künstlerischen Aeußerungen bleibt und und leer war. Alles, was dieser langen Reihe
weder seine privaten noch seine bürgerlichen flächig darstellender Kunst angehört, bezeich-
Tugenden als ein Plus ins Feld führt." net z. B. Meier-Gräfe als künstlerische Aeuße-
So lese ich irgendwo in einer Zeitschrift, rungen, die nur uneigentlich als „Malerei"
und man errät leicht, in welchem Hinblick anzusprechen sind. Damit ist gesagt: die antiken
und Zusammenhang der Satz geschrieben Fresken sind eigentlich keine „Malerei"; die
wurde; er verdient, niederer gehängt zu werden. Fresken eines Massaccio, eines Pierro della
„Man gibt zu," heißt es weiter, „daß Böcklin Francesca, eines Ghirlandajo sind eigentlich
kein Maler war, nur um mit pathetischer Ueber- keine „Malerei"; die Decke der Sixtina ist
legenheit zu erklären, das er viel mehr als eigentlich keine „Malerei",
ein Maler ist." Also: Sehr vieles, das zur Malerei gehört,
Natürlich konnte schon mit dem ersten Satz zur Malerei ohne Anführungszeichen, ist den-
nur Böcklin gemeint sein, der Leser hat wohl noch „eigentlich keine Malerei". Niemand
keinen Augenblick daran gezweifelt. Ich habe wird daraus folgern, daß es keine Kunst sei.
aber noch nie gehört, daß die Verehrer Böck- Vielmehr ist für alle Welt der Maler der
lins zugeben, Böcklin sei kein Maler. sixtinischen Decke — obwohl er „eigentlich
Lassen wir jedoch das dahingestellt sein; kein Maler" war—einer der größten Künstler
nehmen wir den Satz an sich. Ist er wirk- aller Zeiten. Wohl gemerkt: ich rede aus-
lich eine solche Ungeheuerlichkeit und Sinn- drücklich nur vom Maler der sixtinischen
losigkeit? Decke, d. h. von Michelagnolo als Maler. Und
Man kann ohne allzu große Künstlichkeit so läßt sich allerdings die scheinbar höchst
in der gesamten Malerei zwei „Entwicklungs- paradoxe Behauptung aufstellen: daß Michel-
stränge" — wie Meier-Graefe sich ausdrückt agnolo kein „Maler" (eigentlich kein Maler),
CLAUS MEYER STUDIE
117
Von Benno Rüttenauer
FNenn man bringt es mit dem besten Willen — unterscheiden, wovon der eine vom An-
" ' nicht fertig, zu erklären, wieso ein Maler fang des 16. Jahrhunderts rückläufig zu ver-
mehr als ein Maler sein kann, wenn man bei folgen ist, bis hinauf, wo im Anfang alles wüst
seinen künstlerischen Aeußerungen bleibt und und leer war. Alles, was dieser langen Reihe
weder seine privaten noch seine bürgerlichen flächig darstellender Kunst angehört, bezeich-
Tugenden als ein Plus ins Feld führt." net z. B. Meier-Gräfe als künstlerische Aeuße-
So lese ich irgendwo in einer Zeitschrift, rungen, die nur uneigentlich als „Malerei"
und man errät leicht, in welchem Hinblick anzusprechen sind. Damit ist gesagt: die antiken
und Zusammenhang der Satz geschrieben Fresken sind eigentlich keine „Malerei"; die
wurde; er verdient, niederer gehängt zu werden. Fresken eines Massaccio, eines Pierro della
„Man gibt zu," heißt es weiter, „daß Böcklin Francesca, eines Ghirlandajo sind eigentlich
kein Maler war, nur um mit pathetischer Ueber- keine „Malerei"; die Decke der Sixtina ist
legenheit zu erklären, das er viel mehr als eigentlich keine „Malerei",
ein Maler ist." Also: Sehr vieles, das zur Malerei gehört,
Natürlich konnte schon mit dem ersten Satz zur Malerei ohne Anführungszeichen, ist den-
nur Böcklin gemeint sein, der Leser hat wohl noch „eigentlich keine Malerei". Niemand
keinen Augenblick daran gezweifelt. Ich habe wird daraus folgern, daß es keine Kunst sei.
aber noch nie gehört, daß die Verehrer Böck- Vielmehr ist für alle Welt der Maler der
lins zugeben, Böcklin sei kein Maler. sixtinischen Decke — obwohl er „eigentlich
Lassen wir jedoch das dahingestellt sein; kein Maler" war—einer der größten Künstler
nehmen wir den Satz an sich. Ist er wirk- aller Zeiten. Wohl gemerkt: ich rede aus-
lich eine solche Ungeheuerlichkeit und Sinn- drücklich nur vom Maler der sixtinischen
losigkeit? Decke, d. h. von Michelagnolo als Maler. Und
Man kann ohne allzu große Künstlichkeit so läßt sich allerdings die scheinbar höchst
in der gesamten Malerei zwei „Entwicklungs- paradoxe Behauptung aufstellen: daß Michel-
stränge" — wie Meier-Graefe sich ausdrückt agnolo kein „Maler" (eigentlich kein Maler),
CLAUS MEYER STUDIE
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