J. Mc NE IL L WHISTLER
SELBSTPORTRÄT
JAMES ABBOTT MAC NEILL WHISTLER
von Albert Dreyfus
In der Entwicklungsgeschichte der westeuro-
päischen Malerei hat Whistler seinen Platz
unter den Großen und Seltenen. Wenn Ingres
als Entdecker eines neuen linearen konstruk-
tiven Empfindens, Delacroix als Erwecker der
Palette, Constable als Begründer der atmo-
sphärischen Malerei gilt, Manet zuerst Men-
schen und Dinge, als Erscheinungen von Luft
und Licht bedingt, verstand, so reiht sich
ihnen Whistler mit eigenem Verdienst an:
er verfeinert, er verwesentlicht die über-
lieferten Ausdrucksmittel.
• *
Seine Herkunft befähigte ihn besonders
dazu. Er wurde 1834 in den Vereinigten
Staaten geboren, die damals noch keine autoch-
thone Kunst hatten, dagegen Menschen hervor-
brachten mit unangekränkelter Energie und
naiven, zuweilen übertriebenen Kraftgefühlen.
Mit seinem Willen zur Kunst, und ohne Hei-
mat im Sinne der Bodenständigkeit, schlug
Whistler überall Wurzel, wo er malerische
Kultur fand. Er lebte zumeist in Paris und
in London, aber er war ebensogut in Madrid
und in Tokio zuhause, und seine eigentlichen
Geburtsstätten sind etwa der Louvre, der
Salon carre mit dem Bild der Infantin Maria-
Margarita von Velasquez darin, und der kleine
Laden der Madame Soye in der rue de Rivoli,
wo die ersten Sachen aus den Ländern der
aufgehenden Sonne zu kaufen waren. Es ist
amüsant, sich dabei zu erinnern, daß Whistler
selbst seinen Geburtsort immer falsch angab,
Baltimore statt Lowell in Massachussets. Wenn
er doch irgendwo das Licht der Welt erblickt
haben sollte, dann wenigstens in einer Stadt, die
ihm paßte, mit einem wohlklingenden Namen.
Leichter als bei anderen lassen' sich bei
Whistler Einflüsse feststellen, und doch ist
seine Persönlichkeit so stark und - echt wie
eine. Er reagiert auf vielerlei Anregungen,
mögen sie durch Kultur- oder Natureindrücke
Die Kunst für Alle XXII. 9. I. Februar 1907.
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SELBSTPORTRÄT
JAMES ABBOTT MAC NEILL WHISTLER
von Albert Dreyfus
In der Entwicklungsgeschichte der westeuro-
päischen Malerei hat Whistler seinen Platz
unter den Großen und Seltenen. Wenn Ingres
als Entdecker eines neuen linearen konstruk-
tiven Empfindens, Delacroix als Erwecker der
Palette, Constable als Begründer der atmo-
sphärischen Malerei gilt, Manet zuerst Men-
schen und Dinge, als Erscheinungen von Luft
und Licht bedingt, verstand, so reiht sich
ihnen Whistler mit eigenem Verdienst an:
er verfeinert, er verwesentlicht die über-
lieferten Ausdrucksmittel.
• *
Seine Herkunft befähigte ihn besonders
dazu. Er wurde 1834 in den Vereinigten
Staaten geboren, die damals noch keine autoch-
thone Kunst hatten, dagegen Menschen hervor-
brachten mit unangekränkelter Energie und
naiven, zuweilen übertriebenen Kraftgefühlen.
Mit seinem Willen zur Kunst, und ohne Hei-
mat im Sinne der Bodenständigkeit, schlug
Whistler überall Wurzel, wo er malerische
Kultur fand. Er lebte zumeist in Paris und
in London, aber er war ebensogut in Madrid
und in Tokio zuhause, und seine eigentlichen
Geburtsstätten sind etwa der Louvre, der
Salon carre mit dem Bild der Infantin Maria-
Margarita von Velasquez darin, und der kleine
Laden der Madame Soye in der rue de Rivoli,
wo die ersten Sachen aus den Ländern der
aufgehenden Sonne zu kaufen waren. Es ist
amüsant, sich dabei zu erinnern, daß Whistler
selbst seinen Geburtsort immer falsch angab,
Baltimore statt Lowell in Massachussets. Wenn
er doch irgendwo das Licht der Welt erblickt
haben sollte, dann wenigstens in einer Stadt, die
ihm paßte, mit einem wohlklingenden Namen.
Leichter als bei anderen lassen' sich bei
Whistler Einflüsse feststellen, und doch ist
seine Persönlichkeit so stark und - echt wie
eine. Er reagiert auf vielerlei Anregungen,
mögen sie durch Kultur- oder Natureindrücke
Die Kunst für Alle XXII. 9. I. Februar 1907.
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