Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 26.1910-1911
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https://doi.org/10.11588/diglit.13089#0305
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Werth, Léon: Aristide Maillol
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ARISTIDE MAILLOL
Sommers oder im Erwachen des Frühlings Weil aber die Baukunst tot ist oder erst wie-
plötzlich erschaut hätten. der geboren werden muß, so fehlt der Plastik
Wie Maillol, der Bildner, die ruhige Sicher- heute jeder Vorwand,
heit erreichte, die ihm, und unter den fran- Das Staffeleibild wechselt von einer Wand
zösischen Bildhauern unsrer Zeit nur ihm, zur andern; sein Rahmen nur verbindet es
eigen ist, das zu sagen möchte ich versuchen, mit ihr. Es ist ein an die Wand befestigtes
Ein wirklicher Bildhauer, einer, der als Bild- Gedicht. Der Maler konnte an Gefühlen und
hauer denkt und fühlt, ist heutzutage selten Eindrücken da hineinlegen, so viel er wollte;
wie ein Wunder. Ehemals waren der Stein denn er ist frei und erzählt sich. Wie der
des Bildwerks und der Baustein Zwillings- Dichter seine Worte wählt, wählt er seine
brüder. Und wo eine Statue, aus Bronze oder Farben, wählt sein Licht. Der Rahmen aber
Stein, losgerissen von der Wand, auch stehen isoliert, umfängt und bewahrt diese Gedanken
mag, bleibt sie doch ein Stück Architektur, gleich dem Einband, der die Blätter eines
ein Körper im Raum, und wirkt auf die Buches schützt.
Architektur des Hauses oder Monumentes. Die Statue aber ruht fest auf dem Boden,
steht wirklich und körperlich im
Räume, ist Gegenstand, und drückt
nichts anderes aus, als das, was sie
ist. So kommt es, daß heute der
Bildhauer einem Musiker gleicht,
der eine Symphonie auf stummem
Klaviere spielen würde. In den gro-
ßen Zeiten der Baukunst gaben die
Bildhauer das Leben und die Ge-
fühle der Menschen wieder, aber
sie achteten die Architektur, wie
die großen Schriftsteller die Syn-
tax achten. Wo aber sollten un-
sere heutigen Bildhauer ihre Syntax
suchen?
Unsere Zeit hat die Maler be-
günstigt; ihre Ausdrucksweise ist
geschmeidig und wandelbar gewor-
den ; sie haben den Ausdruck für
die Wahrheiten unserer Zeit, für
unsere Anschauungen gefunden. So
ist der Maler frei, wie der Dichter.
Und eben weil seine Sprache auf
Konvention beruht, hält er alles
nach Gefallen fest: Stimmungen
und Augenblicke, Bewegungen und
Beleuchtungen.
Dem Bildhauer ist dies nur zum
Teil gegeben. Er schafft etwas
Körperliches.
Doch die Maler aus der Genera-
tion Maillols, die zugleich Söhne
Cezannes sind, empfanden das Be-
dürfnis, ihren Bildern wieder deko-
rative und monumentale Bedeutung
zu geben. Weil das Fresko nicht
möglich war und die Wände stumm
bleiben mußten, erwuchs das Be-
streben, dem dekorativen Gleichge-
wicht auch innerhalb des Rahmens
aristide maillol Mädchen statue selberGesetz und Regel zu finden.—
278
Sommers oder im Erwachen des Frühlings Weil aber die Baukunst tot ist oder erst wie-
plötzlich erschaut hätten. der geboren werden muß, so fehlt der Plastik
Wie Maillol, der Bildner, die ruhige Sicher- heute jeder Vorwand,
heit erreichte, die ihm, und unter den fran- Das Staffeleibild wechselt von einer Wand
zösischen Bildhauern unsrer Zeit nur ihm, zur andern; sein Rahmen nur verbindet es
eigen ist, das zu sagen möchte ich versuchen, mit ihr. Es ist ein an die Wand befestigtes
Ein wirklicher Bildhauer, einer, der als Bild- Gedicht. Der Maler konnte an Gefühlen und
hauer denkt und fühlt, ist heutzutage selten Eindrücken da hineinlegen, so viel er wollte;
wie ein Wunder. Ehemals waren der Stein denn er ist frei und erzählt sich. Wie der
des Bildwerks und der Baustein Zwillings- Dichter seine Worte wählt, wählt er seine
brüder. Und wo eine Statue, aus Bronze oder Farben, wählt sein Licht. Der Rahmen aber
Stein, losgerissen von der Wand, auch stehen isoliert, umfängt und bewahrt diese Gedanken
mag, bleibt sie doch ein Stück Architektur, gleich dem Einband, der die Blätter eines
ein Körper im Raum, und wirkt auf die Buches schützt.
Architektur des Hauses oder Monumentes. Die Statue aber ruht fest auf dem Boden,
steht wirklich und körperlich im
Räume, ist Gegenstand, und drückt
nichts anderes aus, als das, was sie
ist. So kommt es, daß heute der
Bildhauer einem Musiker gleicht,
der eine Symphonie auf stummem
Klaviere spielen würde. In den gro-
ßen Zeiten der Baukunst gaben die
Bildhauer das Leben und die Ge-
fühle der Menschen wieder, aber
sie achteten die Architektur, wie
die großen Schriftsteller die Syn-
tax achten. Wo aber sollten un-
sere heutigen Bildhauer ihre Syntax
suchen?
Unsere Zeit hat die Maler be-
günstigt; ihre Ausdrucksweise ist
geschmeidig und wandelbar gewor-
den ; sie haben den Ausdruck für
die Wahrheiten unserer Zeit, für
unsere Anschauungen gefunden. So
ist der Maler frei, wie der Dichter.
Und eben weil seine Sprache auf
Konvention beruht, hält er alles
nach Gefallen fest: Stimmungen
und Augenblicke, Bewegungen und
Beleuchtungen.
Dem Bildhauer ist dies nur zum
Teil gegeben. Er schafft etwas
Körperliches.
Doch die Maler aus der Genera-
tion Maillols, die zugleich Söhne
Cezannes sind, empfanden das Be-
dürfnis, ihren Bildern wieder deko-
rative und monumentale Bedeutung
zu geben. Weil das Fresko nicht
möglich war und die Wände stumm
bleiben mußten, erwuchs das Be-
streben, dem dekorativen Gleichge-
wicht auch innerhalb des Rahmens
aristide maillol Mädchen statue selberGesetz und Regel zu finden.—
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