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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 26.1910-1911

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Werth, Léon: Aristide Maillol
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https://doi.org/10.11588/diglit.13089#0303

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ar istide maillol

madchen büste

ARISTIDE MAILLOL

Von Leon Werth

An jenem Dezembertag lag der Himmel in
dicken Nebeln über Maillols Garten;
dann und wann nur drang ein Lichtstrahl
durch, schimmernd wie Perlenglanz. Die
steifen Baumzweige wirkten wie dünne Kohlen-
striche, mit zögernder Hand gegen den Hori-
zont gesetzt, und die mißfarbene Erde sah so
traurig aus, wie der schmutzige Himmel, der
auf uns niederhing.

Maillol kam aus seinem Atelier; er trug
eine Figur: eine nackte Frau, aufrechtstehend,
die Vorderarme zurückgebeugt, die Hände
gegen die Schultern gerichtet. In Holzschuhen,
mit kleinen Schritten, ging Maillol einher; er
wandte sich einer steinernen Säule zu, die
unter einem der kahlen Apfelbäume stand.
Seine Aeste standen vom graden Stamme ab,
in weit geschwungenem Bogen auseinander-

strebend, wie lose Zweige in einer Vase. Dort,
unter die Zweige des Apfelbaumes, stellte
Maillol die Statue auf die Säule nieder.

Da schien es uns, als wüchsen Aepfel an
dem Baume; als herrsche die Figur über den
nebligen Dezembermorgen. Die Fülle reifen
Herbstes öffnete ihre Arme — die großen vollen
Arme mütterlicherFrauen —und verlöschte die-
sen kümmerlichen, schüchternenWintersanfang.
Wohl hatte die Natur Kleid und Stimmung die-
ses Tages schlecht gewählt. In fahlem Umriß
verlor sich der Garten, in feuchter Luft ver-
schwamm jede Gestalt. In Garten, Luft und
Landschaft aber übertrug diese Plastik ihre
eigene Bestimmtheit und Wahrheit. Ja gerade
durch den Kontrast drückte sie sich uns
stärker, klarer ein, als wenn wir sie in Fülle
und Frieden des Herbstes, in der Kraft des

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