AUS EUGENE DELACROIX' TAGEBUCH
andern nur das tun, was er für sich selbst soviel wie sie nützen. Sie führen die Künstler
tut, nämlich notieren, beobachten, je nachdem irre oder schüchtern sie ein. Sie geben den
die Natur ihm interessante Objekte darbietet. Kritikern fürchterliche Waffen gegen jede Origi-
Bei so einem Menschen wechseln die Gesichts- nalität in die Hand.
punkte jeden Augenblick. Die Ansichten än- * * *
dern sich notwendigerweise. Er soll nicht Das erste Prinzip ist das der Aufopferung
fürchten, sich zu widersprechen. Man wird alles Nebensächlichen. Die Malerei kann nur
mehr Früchte aus einem Ueberfluß an Ein- dann wirken, wenn man der Wirkung das Eine
fällen, selbst wenn sie sich widersprechen, oder Andere opfert, nur kann ich nicht leiden,
ziehen können, als aus einem frisierten, ein- daß der Künstler uns das als Willkür empfinden
geschnürten, zurechtgeputzten Werke, bei dem läßt. Es gibt sehr schöne Werke, die in über-
er auf die Form achtete. . . Wenn Poussin triebener Weise im Sinne der Wirkung gedacht
in einer ausfälligen Bemerkung sagte, daß sind, z. B. die von Rembrandt und bei uns
Raffael im Vergleich mit der Antike ein Esel von Decamps. Bei ihnen ist diese Ueber-
war, so wußte er, was er sagte. Er wollte treibung natürlich und beleidigt uns nicht. Ich
nur die Zeichnung, die anatomischen Kennt- mache diese Bemerkung beim Anblick meines
nisse beider vergleichen, und da konnte er Porträts des Herrn Bruyas. Rembrandt hätte
wohl leicht beweisen, daß Raffael neben den nur den Kopf gezeigt; die Hände wären kaum
Alten ein Ignorant war. angedeutet gewesen, ebenso der Anzug.
* * * *
• *
Ueber die Autorität, die Traditionen, das Jean-Jacques sagt mit Recht, daß man die
Beispiel der alten Meister: Sie schaden eben- Reize der Freiheit besser malt, wenn man
EUGENE DELACROIX CHRISTUS AUF DEM SEE GENEZARETH
ie Kunst für Alle XXVI. 353
andern nur das tun, was er für sich selbst soviel wie sie nützen. Sie führen die Künstler
tut, nämlich notieren, beobachten, je nachdem irre oder schüchtern sie ein. Sie geben den
die Natur ihm interessante Objekte darbietet. Kritikern fürchterliche Waffen gegen jede Origi-
Bei so einem Menschen wechseln die Gesichts- nalität in die Hand.
punkte jeden Augenblick. Die Ansichten än- * * *
dern sich notwendigerweise. Er soll nicht Das erste Prinzip ist das der Aufopferung
fürchten, sich zu widersprechen. Man wird alles Nebensächlichen. Die Malerei kann nur
mehr Früchte aus einem Ueberfluß an Ein- dann wirken, wenn man der Wirkung das Eine
fällen, selbst wenn sie sich widersprechen, oder Andere opfert, nur kann ich nicht leiden,
ziehen können, als aus einem frisierten, ein- daß der Künstler uns das als Willkür empfinden
geschnürten, zurechtgeputzten Werke, bei dem läßt. Es gibt sehr schöne Werke, die in über-
er auf die Form achtete. . . Wenn Poussin triebener Weise im Sinne der Wirkung gedacht
in einer ausfälligen Bemerkung sagte, daß sind, z. B. die von Rembrandt und bei uns
Raffael im Vergleich mit der Antike ein Esel von Decamps. Bei ihnen ist diese Ueber-
war, so wußte er, was er sagte. Er wollte treibung natürlich und beleidigt uns nicht. Ich
nur die Zeichnung, die anatomischen Kennt- mache diese Bemerkung beim Anblick meines
nisse beider vergleichen, und da konnte er Porträts des Herrn Bruyas. Rembrandt hätte
wohl leicht beweisen, daß Raffael neben den nur den Kopf gezeigt; die Hände wären kaum
Alten ein Ignorant war. angedeutet gewesen, ebenso der Anzug.
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Ueber die Autorität, die Traditionen, das Jean-Jacques sagt mit Recht, daß man die
Beispiel der alten Meister: Sie schaden eben- Reize der Freiheit besser malt, wenn man
EUGENE DELACROIX CHRISTUS AUF DEM SEE GENEZARETH
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