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Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 20.1870

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Lichtenstein, ...: Ueber die erfinderische Thätigkeit des Kunsthandwerkers: Vortrag
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Zeitschrift

des

Kunst-Gewerbe-Vereins.

Zwanzigster Jahrgang.

München. ^ _ _ 1870.

Die Zeitschrift erscheint monailich mit wenigstens zwei Seiten Text und zwei Kunstbeilagen. Die Vereinsmitglieder erhalten die Zeitschrift unentgeltlich. Im Buch-
handel kostet dieselbe 4 fl. s. W. — 2 Thlr. 12 Sgr. der Jahrgang. Inserate geeigneten Inhaltes werden mit 6 kr. —• 2 Sgr. für den Raum einer gespaltenen
Petitzeile berechnet. Sl and ig e Inserate erhalten eine entsprechende Preisermäßigung. In- und Auswärtige wollen sich dieserhalb an die Buchhandlung von

Theodor Ackermann dahier wenden.

Ueber die erfinderische Thätigkeit des Kunsthand-
werkers.

Vortrag von Di-. Lichtrnstein.

Meine Herren! Der Titel, .welchen ich ursprünglich für mei-
nen Vortrag gewählt hatte, lautete: „über die Phantasie des Kunst-
handwerkers". Doch schien es, als ob heutzutage-der Name der
Phantasie zu fremdartig klinge, wiewohl es verwunderlich sein mag,
daß die göttliche Phantasie gerade auf einem Gebiete, auf welchem
sie so recht heimisch sein sollte, als eine Fremde herumirren muß.
Aber es ist nun einmal so. Unsere Zeit leidet wirklich an Phan-
tasiemangel. Hat nun die Mutter Natur das gegenwärtige Ge-
schlecht im Vergleich zu früheren Generationen in der That so sehr
vernachlässigt und verwahrlost, daß in den Köpfen der Jetztleben-
den die Phantasie als natürliche Anlage ausgestorben ist? Ich
glaube nicht; die Gabe der Phantasie ist vorhanden; aber sie
schlummert; daß sie aber schlummert, hängt mit einem Grundgebrechen
unserer Zeit zusammen, welches darin besteht, daß unsere Zeit eine
durch und durch unfertige ist. In unserer Gegenwart gährt nemlich
eine Menge von neuen Bildungselementen, welche sich wesentlich von den
Bildungselementen und Culturformen früherer Epochen unterscheiden.
Jedes Volk, wie jeder Einzelne, er mag wollen oder er mag nicht
wollen, ist von den neuen Bildnngselcmenten durchsetzt. Aber

diese wirbeln sowohl in den Volksgeistern, wie in den Geistern
der einzelnen Menschen zusammenhangslos umher. Sie sind
weder unter sich noch mit den ererbten Geistesschätzen der Ver-
gangenheit zu einem einheitlichen Ganzen zusammengewachsen. Da-
her kommt cs auch, daß gegenwärtig keinem Menschen ein wahr-
haft deutliches und erschöpfendes Gesammtbild von Alledem vor
Augen schwebt, was die Zeit eigentlich will. Es ist eben der zu-
sammenfassende, der klassische Ausdruck für den Zusammenhang
aller der Neuerungen auf religiösem, wcialem, wissenschaftlichem
und technischem Gebiete noch nicht gefunden. Wird einmal dieser
Ausdruck gefunden sein und wird den Menschen ein klares erschöpfen-
des Gesammtbild von dem, was sie Neues wollen, vor Augen
stehen, dann wird auch die schlummernde Einbildungskraft wieder
erwachen. Dann wird die Phantasie befähigt werden, ihren höchsten
Flug zu wagen; sie wird zu ihrer höchsten Leistung die Kraft in
sich spüren. Worin besteht nun diese höchste Leistung? Darin,
daß sie mit den Mitteln der Kunst einen neuen klassischen Ausdruck
für die eigenste Empfindungs- und Anschauungsweise unserer Zeit,
kurz, daß sie den unserer Zeit angemessenen Styl erfindet. Frühere
Zeitalter waren in dieser Beziehung besser daran; sie besaßen für
ihre eigenste Empfindungs- und Anschauungsweise einen klassischen
Ausdruck; sie besaßen einen Alles beherrschenden Styl. Hiedurch
ivurde dem einzelnen Künstler wie dem einzelnen Handwerker das
schaffen außerordentlich erleichtert; es wurde ihm durch die vor-
handene Grundform gewissermaßen die Hand geführt; die schon ge-
formte Empfindungsweise der ganzen Zeit prickelte ihm in den

Fingern. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß alle die griechi-
schen Töpfer und diejenigen, welche die Töpfe bemalten, mit so
staunenswerther Sicherheit dasselbe Grundthema auf die mannig-
fachste Weise zu variiren verstanden; wie wäre es auch möglich ge-
wesen, daß die Hunderte von Steinmetzen des Mittelalters, welche
an den vielen gothischen Domen arbeiteten, auf eigene Faust ihr
Grundthema variiren durften, so daß doch das Ganze harmonisch
zusammenstimmte, wenn sie nicht einen Rückhalt an dem Alles be-
herrschenden Styl gehabt Hütten! Ein solcher Rückhalt fehlt der
gegenwärtigen Generation; sie leidet an Styllosigkeit, und deßhalb
tastet sie mit ihrer erfinderischen Thätigkeit unsicher herum. Selbst
ein so großer Meister der modernen Renaissance, wie Gottfried
Semper, muß im Grunde eingestehcn, daß eine neue Form des
künstlerischen Schaffens nothwendig sei, indem er in seiner kleinen
Schrift über Banstyle die Architekten gegen den Borwurf der Ar-
muth an Erfindung damit vertheidigt, daß sich nirgend eine neue ,
welthistorische, mit Kraft und Bewußtsein verfolgte Idee kundgebe.
Und er scheint dabei die Möglichkeit im Auge zu haben, daß in.
nicht allzuferner Zeit jene neue Grundform gefunden werde, wenn
er sagt, er sei überzeugt, daß sich dieser oder jener unter seinen
jüngeren Collegen befähigt zeigen würde, einer solchen welthistori-
schen Idee das geeignete architektonische Kleid zu verleihen.

Nun fragt es sich: soll der Kunsthandwerker vollständig auf
seine eigene erfinderische Thätigkeit verzichten, weil ihm das Haupt-
anregungsmittel für dieselbe, weil ihm der für unser Zeitalter
charakteristische Styl mangelt? Und ferner fragt es sich: Gibt es
denn sonst keine Anregungsmittel für die erfinderische Thätigkeit,
welche den Mangel des Hauptanregungsmittels, des eigenen Styls
einigermaßen ersetzen, ja welche sogar eine Vorarbeit für die Auf-
findung des neuen Styls hervorzurufen im Stande sind? Ganz ge-
wiß gibt es solche Anregungsmittel, welche den Kunsthandwerkern
auch jetzt noch das eigene Schaffen erleichtern und durch welche
diese zur Verfertigung von Erzeugnissen befähigt werden, welche
als Vorarbeiten für den neuen Styl angesehen werden müssen.
Dieser neue Styl gährt ja auch schon in der Gegenwart; mag heut-
zutage Einer im Styl der Antike, der Gothik oder der Renaissance
bauen oder kunstgewerbliche Gegenstände verfertigen, so wird sich
immer Etwas einmischen, was weder der Antike, noch der Gothik,
noch der Renaissance angehört, sondern was etwas Neues, was
modern ist. Aber als selbständiger Styl hat sich in der bildenden
Kunst das Moderne noch nicht abgelöst.

Ich will nur einige von den Anregungsmitteln nennen, welche
jetzt noch die Erfindungskraft des Kunsthandwerkers befruchten
könne».

In erster Linie steht die alte und doch ewig junge Natur,
.welche weder im Styl der Antike, noch in dem der Gothik oder der
Renaissance gebaut ist, welche aber heute wie vor Tausenden von
Jahren den Menschen zu eigenem Schaffen anzuregen im Stande
ist. Und heute, wie vor Tausenden von Jahren macht der Kunst-
 
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