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Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 20.1870

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Lichtenstein, ...: Ueber die erfinderische Thätigkeit des Kunsthandwerkers: Vortrag
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nicht aus dem Eigenen schöpfen ; müssen wir auch in Bezug auf
den figürlichen Schmuck nur Nachahmer der Renaissance sein?
Wir sollten doch bedenken, daß die Phantasie derjenigen Klassen,
welche in der Zeit der mit Recht vielgepriesenen Renaissance den
Ton angaben, wirklich mit den olympischen Göttern bevölkert war,
so daß es zum Bedürfniß wurde, diese Gestalten auch an Wänden
und Decken und an Geräthschaften aller Art zu erblicken. Die
Mythologie der classischen Völker hauste damals nicht als tobte
Wissenschaft in den Köpfen, sondern die Götterwelt diente ihnen
zur Verkörperung von Ideen, Kräften und Leidenschaften, und
überall, selbst in den Dichtungen von eigentlich christlichem Gehalt
wimmelte es von Anrufungen und sonstigen Erwähnungen der
olympischen Götter. Das ist nun ganz anders geworden. Die
Phantasie der Jetztlebenden ist nicht mit den olympischen Göttern,
sondern mit den Wundern der dienstbargemachten Naturkräfte be-
völkert, und daß die schöpferische Phantasie der Künstler diese Natur-
kräfte in menschlichen Gestalten zu verkörpern im Stande sei, ist
schon durch die That bewiesen. So wußte der große Meister
Cornelius gerade für ein kunstgewerbliches Erzeugniß von höchster
Bedeutung, für den Glaubensschild nemlich, welchen Friedrich
Wilhelm IV. von Preußen dem Prinzen von Wales zum Pathen-
geschenk gab, die treibenden Kräfte eines Dampfbootes durch
Menfchenfiguren darzustellen. Die Mitte des Schildes wird durch
einen Christuskopf gebildet, von welcher vier goldene Kreuzesarme
ausgehen, auf welchen sich die Gestalten von Glaube, Liebe, Hoff-
nung und Gerechtigkeit befinden; zwischen den Krenzesarmen sieht
man auf silbernen Feldern biblische Scenen, welche sich auf die
Sacramente beziehen. Auf dem aus Silber verfertigten Schildrand
ist das Leben und Sterben Christi vergegenwärtigt; von der Ver-
sammlung hinweg, welche den heiligen Geist empfängt, wird das
Taufwasscr zum Gemache getragen, in welchem die Königin Victoria
auf ihrem Lager ruht, und in welches von der andern Seite ein
Bote tritt, um die Ankunft des Königs zu melden; diesen sieht man
auf dem nächsten Feld des Schildrandes mit Alexander von Hum-
boldt auf einem Dampfboote, an welchem sich wie gesagt, die styl-
vollen Personificationen der treibenden Kräfte befinden. Hier ist
also der Beweis geliefert, daß die ganz moderne Erfindung es ver-
trägt, selbst mitten unter den Scenen der biblischen Geschichte so
angebracht zu werden, daß sic durchaus nicht störend wirkt, ja viel
weniger störend, als wenn olympische Götter in Gedichten und auf
Gemälden von christlichem Inhalt Vorkommen. Auch die Fresken
am Bahnhof, die Sgraffitomalcreicn am Polytechnikum und ein
Tafelaufsatz in München legen Zeugniß dafür ab, daß die Wunder
der dienstbargeinachten Naturkräfte auch der Kunst dienstbar gemacht
werden können. Wenn so eine neue Figurenwelt geschaffen ist,
dann wird durch sie auch das Ornament wieder belebt werden,
welches jetzt nur allzuoft deßhalb eine seelenlose und leblose Nach-
ahmung früherer Muster ist, weil nicht die lebendige Seele unseres
Zeitalters in demselben pulsirt. Es könnte beispielsweise je nach
der Bedeutung einer Figur, welche etwa als Personification der
dienstbargemachten Electricität oder Dampfkraft die Mitte einer
Arabeske bildet, und von deren Körper aus nach beiden Seiten
die Arabeske fortwächst, diese selbst ihr originelles Aussehen, ihren
originellen Schwung erhalten. Auch könnten noch weniger ange-
wendete Pflanzenformen und Kristallformen für die originellere
Charakterisirung der Arabeske benutzt werden. Auf diese Weise
könnten auch viele kleinere und größere Maschinen ihren künstlerischen
Schmuck erhalten, welchen sic bis jetzt entbehren.

Wir haben aber für den figürlichen Schmuck noch eine andere
Quelle, aus welcher geschöpft werden könnte. Diese Quelle ist das
e6eu derjenigen Volksklasse, welche zum größten Theil aus so-
suchen"^" Naturmenschen oder Naturkindern besteht. Dieser Volksklasse
als <3 'Ü'r ^"kzutage auf verschiedene Weise näher zu treten. Wenn wir
an der «"^frischler in die Alpen wandern, wollen wir uns nicht allein
... sondern auch durch den Umgang mit der unver-

UU C 611' ""gebrochenen Natur ihrer Bewohner auffrischen; und

wie wir hier die Poesie, welche im Volke liegt, selbst aufsuchen,
so wird uns dieselbe auch durch die Verfasser der Dorfgeschichten
näher gebracht. Wohl fühlte man auch in dem nun abgeschlossenen
Zeitalter der Renaissance den Drang, das Leben jener Volksklasse
ins Bereich der Kunst zu ziehen; man spielte Schäfer und Schäfer-
innen ; aber es war nur eine Maskerade, und die gelehrten Dichter
der Renaissance verachteten geradezu das Volkslied und das Volks-
mährchen. Unsere Zeit aber hat viel mehr Sinn für die dem
Volke cigenthümliche Poesie; darum könnten auch die poetischen
Gestalten, welche uns das Volksleben, das Volkslied und das
Volksmährchen liefert, auf neue Weise zum figürlichen Schmuck
kunstgewerblicher Gegenstände verwendet werden, wie sie schon
besonders von Holzschnitzern gern benützt werden.

Zum Schluß komme ich uun noch zu einem Anregungsmittel
für die erfinderische Thätigkeit des Kunsthandwerkers, welches mit
Manchem, was ich schon erwähnte, in engem Zusammenhang steht.
Dieses Anregungsmittel ist die bunte Menschengesellschaft, wie sie
gegenwärtig leibt und lebt. Der Handwerker arbeitet ja nicht für
seine Werkstätte, für sein Magazin, für das Schaufenster. Er ver-
fertigt die Kleidungsstücke, Schmucksachen und Geräthschaften für
den lebendigen Menschen. Er muß sich also mit seiner Phantasie
die Verschiedenartigkeit der Menschen und wenigstens gewisse Haupt-
gattungen ihrer Figuren und Stimmungen vergegenwärtigen. Die
Franzosen sind eben auf dem Gebiete der Kunstindustrie auch da-
durch noch tonangebend, daß sie sich lebhafter als andere Völker
bei ihren Arbeiten die Menschen in ihrer Mannichfaltigkeit vor-
stellcn, so daß man z. B. bei Betrachtung ihrer Schmucksachen sich
gleich verschiedenartige Figuren hinzudenken kann. Nur auf die
erwähnte Weise kann für die Auswahl gearbeitet werden. Die
Erfahrung giebt hiefür manche Fingerzeige. Wenn eine Dame in
einen Laden tritt, um sich Etwas auszusuchen, dann wird sie eine
besondere Freude haben, wenn sie Etwas findet von dem sie sagen
kann: Das ist ja wie für mich gemacht. Sie setzt also gewisser-
massen voraus, der Phantasie des Handwerkers habe bei seiner
Arbeit ihre oder eine ähnliche Figur vorgeschwebt. Da also die
Käufer wünschen müssen, daß die gewerblichen Erzeugnisse gerade
für sie passen, so ist das ein Fingerzeig dafür, daß die Hand-
werker, welche auf Bestellung arbeiten, sich die Besteller ordentlich
ansehen nnd daß sich diejenigen, welche auf Vorrath und für die
Auswahl arbeiten, verschiedenartige Menschen lebhaft vorstellen
müssen, mögen sie nun Bestandtheile der Tracht oder der Zimmer-
einrichtung anfertigen. Denn auch in der letzteren will der Mensch
seine Grundstimmung, mag diese ernster oder heiterer Natur
sein, in festlicher Weise abgespicgelt sehen. Jede Familie, auch
wenn sie arm ist, möchte ja ein sognanntes „schönes Zimmer"
haben. Dieses schöne Zimmer soll eben eine Verkörperung der
festlichen Familienstimmung sein.

Wenn nun der Kunsthandwerker sich die Verschiedenartigkeit
der Menschen und ihrer Stimmungen vergegenwärtigt, so soll er
dabei den eigenthümlich modernen Gesichtsausdruck, in welchem sich die
eigenste Empfindungsweise unserer Zeit ausprägt, sowie die moderne
Art, sich zu bewegen, nicht vergessen. Denn es gibt moderne Ge-
sichter, wie es mittelalterliche und Rococogesichter gibt, wovon sich
Jeder in Kupferstichsammluugcn und Galerien überzeugen kann.
Wenn Etwas von den modernen Physiognomieen und Gestalten,
für deren Ausschmückung und Umgebung ja der Kunsthandwerker
arbeitet, in die Erzeugnisse des Letzteren übergeht, dann wird auch
hiedurch seine Arbeit eine Vorarbeit für den neuen, für den modernen
Styl werden.

Ich habe Ihnen nun gezeigt, meine Herren, daß es an An-
regungsmitteln für die erfinderische Thätigkeit des Kunsthandwerkers
nicht fehlt; wohl ist das rechte Wort, das eigentliche Treffwort für
das Neue, was in der Zeit liegt, noch nicht gesprochen; wohl ist
auch der Styl, welcher das künstlerische Spiegelbild der eigensten
Empfiudungsweise unseres Zeitalters wäre, noch nicht ausgeprägt.
Doch wenn wir die Auffindung dieses Styles fortwährend als unser
 
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