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Zwischen Klassizismus und seiner Überwindung
Stellt man das Werk Coypels dem nahezu gleichzeitig entstandenen, oben
besprochenen Bild von de La Fosse mit demselben Thema gegenüber (Abb. 14), so
werden die unterschiedlichen Interessen dieser beiden Künstler deutlich. Das Bemü-
hen von de La Fosse ging dahin, die Szene als ein harmonisches Ganzes zu zeigen,
als ein Ereignis in lieblicher Stimmung ohne allzu große Dramatik und erzählerische
Höhepunkte. Coypels Anliegen hingegen war es, die Begebenheit eingebettet in
einen Handlungsablauf mit einem Vorher und einem Nachher zu zeigen. Sein Mit-
tel war die Betonung und Differenzierung der Affekte, wodurch die Personen jeweils
unterschiedlich an dem Geschehen beteiligt erscheinen und so eine mehrschichtige
Erzählweise erreicht wurde.
Ähnliches ist bei dem Bild »Susanna vor den Richtern« (circa 1695, Abb.20) fest-
zustellen, das ebenfalls zu der Serie gehört, mit der sich Coypel zu profilieren
suchte171. Der Künstler wählte für dieses Werk den Höhepunkt der Geschichte der
Susanna aus, an dem sich die Spannung noch nicht durch das klärende Eingreifen
des Daniel gelöst hat. Gerade bei diesem Moment konnten und mußten die der
Szene vorangegangenen und nachfolgenden Ereignisse einbezogen werden. Mittel
der Dramatisierung und der Versinnbildlichung der Handlungsabläufe war auch hier
wieder der Bereich der expression des passions. Mit ihrer Hilfe konnte Coypel nicht nur
das Verhalten der Richter, ihre verleumderische Anklage und die verzweifelte Reak-
tion der Susanna wiedergeben (und damit die Vorgeschichte des dargestellten
Augenblickes einbringen); es war ihm auch möglich, die Spannung vor ihrer Auf-
lösung noch einmal zu steigern durch die ganze Vielfalt von unterschiedlichen Stel-
lungnahmen der an dem Geschehen Beteiligten. Nach dem Text172, an den sich
Coypel ziemlich eng hielt, waren neben den direkt Betroffenen die Verwandten
Susannas, ihre Eltern und ihre Kinder zugegen und Mitglieder aus der Bevölkerung
(es handelte sich um eine öffentliche Ratssitzung). So bot sich hier die Gelegenheit,
ein reich gefächertes Spektrum von Leidenschaften wiederzugeben, was bereits von
Zeitgenossen hervorgehoben wurde173. Damit war die Forderung de Piles' nach einer
171 Schnapper, op.cit. (Anm. 153), S. 63, stellt das Gemälde an den Anfang der Serie.
172 Apokryphes Buch Daniel, 1, 28-44.
173 So bemerkte Daniel Cronström, der spätere Gesandte Schwedens in Paris, in einem Brief aus dem
Jahr 1696 an Nicodème Tessin le jeune, der königlicher Architekt in Stockholm war und 1697 den
eigens für ihn in Anlehnung an das französische Vorbild geschaffenen Posten des Surintendant
des Bâtiments Royaux erhielt: »... il y a plus de 25 figures toutes marquantes des expressions quasy
différentes et admirables dans le dit tableau de Suzanne.« (... in dem besagten Bild der Susanna
gibt es mehr als 25 Figuren, die alle mit unterschiedlichen und vortrefflichen Ausdrucksformen
versehen sind.) Interessant ist hier auch eine weitere Stelle des Briefes. Cronström hatte offensicht-
lich von Tessin den Auftrag erhalten, mit Coypel über Bilder für den schwedischen König zu ver-
handeln. In diesem Zusammenhang soll Coypel es abgelehnt haben, ein Schlachtenbild zu
malen, da dieses nur die Möglichkeit böte, zwei oder drei unterschiedliche Affekte darzustellen:
»Je l'ay instruit sur le caractère et sur le goust du Roy, Nostre Maistre. Il voudroit bien que S. M.
n'en eust pas tant pour les sujets guerries et batailles, les belles expressions n'y trouvant pas si fort
lieu que dans d'autres, ou n'y en ayant quasy que deux ou trois sortes. C'est pour quoy nous avons
Zwischen Klassizismus und seiner Überwindung
Stellt man das Werk Coypels dem nahezu gleichzeitig entstandenen, oben
besprochenen Bild von de La Fosse mit demselben Thema gegenüber (Abb. 14), so
werden die unterschiedlichen Interessen dieser beiden Künstler deutlich. Das Bemü-
hen von de La Fosse ging dahin, die Szene als ein harmonisches Ganzes zu zeigen,
als ein Ereignis in lieblicher Stimmung ohne allzu große Dramatik und erzählerische
Höhepunkte. Coypels Anliegen hingegen war es, die Begebenheit eingebettet in
einen Handlungsablauf mit einem Vorher und einem Nachher zu zeigen. Sein Mit-
tel war die Betonung und Differenzierung der Affekte, wodurch die Personen jeweils
unterschiedlich an dem Geschehen beteiligt erscheinen und so eine mehrschichtige
Erzählweise erreicht wurde.
Ähnliches ist bei dem Bild »Susanna vor den Richtern« (circa 1695, Abb.20) fest-
zustellen, das ebenfalls zu der Serie gehört, mit der sich Coypel zu profilieren
suchte171. Der Künstler wählte für dieses Werk den Höhepunkt der Geschichte der
Susanna aus, an dem sich die Spannung noch nicht durch das klärende Eingreifen
des Daniel gelöst hat. Gerade bei diesem Moment konnten und mußten die der
Szene vorangegangenen und nachfolgenden Ereignisse einbezogen werden. Mittel
der Dramatisierung und der Versinnbildlichung der Handlungsabläufe war auch hier
wieder der Bereich der expression des passions. Mit ihrer Hilfe konnte Coypel nicht nur
das Verhalten der Richter, ihre verleumderische Anklage und die verzweifelte Reak-
tion der Susanna wiedergeben (und damit die Vorgeschichte des dargestellten
Augenblickes einbringen); es war ihm auch möglich, die Spannung vor ihrer Auf-
lösung noch einmal zu steigern durch die ganze Vielfalt von unterschiedlichen Stel-
lungnahmen der an dem Geschehen Beteiligten. Nach dem Text172, an den sich
Coypel ziemlich eng hielt, waren neben den direkt Betroffenen die Verwandten
Susannas, ihre Eltern und ihre Kinder zugegen und Mitglieder aus der Bevölkerung
(es handelte sich um eine öffentliche Ratssitzung). So bot sich hier die Gelegenheit,
ein reich gefächertes Spektrum von Leidenschaften wiederzugeben, was bereits von
Zeitgenossen hervorgehoben wurde173. Damit war die Forderung de Piles' nach einer
171 Schnapper, op.cit. (Anm. 153), S. 63, stellt das Gemälde an den Anfang der Serie.
172 Apokryphes Buch Daniel, 1, 28-44.
173 So bemerkte Daniel Cronström, der spätere Gesandte Schwedens in Paris, in einem Brief aus dem
Jahr 1696 an Nicodème Tessin le jeune, der königlicher Architekt in Stockholm war und 1697 den
eigens für ihn in Anlehnung an das französische Vorbild geschaffenen Posten des Surintendant
des Bâtiments Royaux erhielt: »... il y a plus de 25 figures toutes marquantes des expressions quasy
différentes et admirables dans le dit tableau de Suzanne.« (... in dem besagten Bild der Susanna
gibt es mehr als 25 Figuren, die alle mit unterschiedlichen und vortrefflichen Ausdrucksformen
versehen sind.) Interessant ist hier auch eine weitere Stelle des Briefes. Cronström hatte offensicht-
lich von Tessin den Auftrag erhalten, mit Coypel über Bilder für den schwedischen König zu ver-
handeln. In diesem Zusammenhang soll Coypel es abgelehnt haben, ein Schlachtenbild zu
malen, da dieses nur die Möglichkeit böte, zwei oder drei unterschiedliche Affekte darzustellen:
»Je l'ay instruit sur le caractère et sur le goust du Roy, Nostre Maistre. Il voudroit bien que S. M.
n'en eust pas tant pour les sujets guerries et batailles, les belles expressions n'y trouvant pas si fort
lieu que dans d'autres, ou n'y en ayant quasy que deux ou trois sortes. C'est pour quoy nous avons