Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kirchner, Thomas
L' expression des passions: Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts — Mainz: von Zabern, 1991

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.72614#0107

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Zwischen Klassizismus und seiner Überwindung

103

weitgehenden Differenzierung der Affektdarstellungen erfüllt. Andernfalls - so der
Theoretiker - bestehe die Gefahr, daß ein Bild langweilig wirke, den Betrachter
ermüde und abstoße. Und wieder hat sich Coypel zu der Darstellung einzelner Lei-
denschaften bei Le Brun und seinem Traktat bedient, das er bereits vor der Druckle-
gung gekannt haben muß: Die im Vordergrund auf dem Fußboden sitzende Frau
entspricht genau Le Bruns »L'abatement« (Abb. 21, vgl. Abb.7, dort die Tochter des
Darius im Zentrum von Le Bruns Bild), die hinter dieser sich auf Susanna zubewe-
gende ältere Frau, offensichtlich ihre Mutter, ist in Anlehnung an »Tristesse«
(Abb. 22) gestaltet, und die in der rechten Bildhälfte stehende hellgekleidete Frau ist
orientiert an »La haine« (Abb. 23), ohne jedoch die Schärfe dieses Ausdruckes zu
besitzen.Der links vor dem Pilaster placierte ältere Mann, der Vater der Angeklagten,
erinnert nicht nur in seiner Mimik an die Figur des Laokoon.
Die Affekte dienen aber nicht allein dazu, dem Geschehen Dramatik und Span-
nung zu verleihen und Aktion darzustellen; sie ermöglichen auch die Identifikation
der Personen. So erscheinen die Familienmitglieder, die auf der linken Bildhälfte
angeordnet sind, wesentlich emotionsgeladener als das sich in seiner Gesamtheit
noch nicht schlüssige Volk. Außer Susanna sind besonders die Richter, ihre Eltern
und ihre Kinder hervorgehoben - dies nicht nur durch ihren jeweiligen Gesichtsaus-
druck, sondern auch durch die Gestik und den Raum, der ihnen in der Komposition
zugebilligt wird.
Neben den bereits beschriebenen Einflüssen wird in dem Bild noch ein weiterer
Bereich erkennbar, der für Coypel eine wesentliche Rolle gespielt hat: das Theater.
Damit kann zum einen die theoretische Begründung für die Auswahl des dargestell-
ten Zeitpunktes gegeben werden. In der »Poetik« des Aristoteles lesen sich einzelne
Passagen wie eine Erläuterung zu dem Gemälde. Entsprechend seiner Diktion ist
hier der Höhepunkt der Knüpfung noch vor Peripetie und Entdeckung gezeigt, wobei
die beiden letzteren zusammenfallen, was nach dem Philosophen als besonders
positiv zu bewerten ist174.Zum anderen erklärt sich mit dem Hinweis auf das Theater

tasche de choisir des sujets héroiques, martials et peu gallants, sans estre combats.« (Ich habe ihn

über den Charakter und den Geschmack des Königs unterrichtet. Er würde es vorziehen, wenn

Seine Majestät nicht so sehr für die Kriegs- und Schlachtenthemen eingenommen wäre. Die schö-

nen Ausdrucksformen finden hier nicht so viel Platz wie bei anderen Themen, oder es gibt darin

lediglich zwei oder drei Arten. Aus diesem Grund haben wir uns bemüht, heroische Themen aus-

zusuchen, die kriegerisch und, wenig galant sind, ohne Kampfszenen zu sein.) Roger-Armand

Weigert und Carl Hernmarck (Hrsg.), Les relations artistiques entre la France et la Suède 1693-

1718. Nicodème Tessin le jeune et Daniel Cronström. Correspondance (extraits), Stockholm

1964, S. 120.

174 »Die Peripetie ist der Umschlag der Handlung in ihr Gegenteil, und zwar ... entweder mit Wahr-
scheinlichkeit oder mit Notwendigkeit... Die Entdeckung ist... der Umschlag aus Unwissenheit
in Erkenntnis, zur Freundschaft oder Feindschaft, je nachdem die Handelnden zu Glück oder
Unglück bestimmt sind.« Aristoteles, op. cit. (Anm. 44), Kap. 11, S. 38 f. »Ich nenne Knüpfung
jenen Teil vom Anfang bis zu dem letztem Stück unmittelbar vor dem Übergang ins Glück oder
ins Unglück ...«, ebd., Kap. 18, S. 49.
 
Annotationen