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Kirchner, Thomas
L' expression des passions: Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts — Mainz: von Zabern, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.72614#0260

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256

Zur Korrektur der Gattungshierarchie

fig im ländlich-bäuerlichen Milieu angesiedelten Themen der realen Welt der
Betrachter entsprachen). Die Verbindung von einfühlsamen psychologischen Schil-
derungen der Menschen mit bürgerlichen Moralvorstellungen erldärt zu einem gro-
ßen Teil den Erfolg, den die Werke von Greuze beim Publikum und bei der Kritik
hatten. So meinte zum Beispiel Diderot in seiner Besprechung des Salons von 1763
zu dem »Gelähmten« (Piété filiale): »D'abord le genre me plaît; c'est la peinture
morale.« (Mir gefällt vor allem die Gattung; das ist moralische Malerei.) Und ange-
sichts der Figur des alten, gelähmten Mannes in diesem Bild bemerkte er:
»Lorsque je vis ce vieillard éloquent et pathétique, je sentis . . . mon âme s'attendrir et
des pleurs prêts à tomber de mes yeux.«
(Als ich diesen so beredten und rührenden Greis sah, hatte ich... das Gefühl, daß
meine Seele von Mitleid erfüllt wurde und die Tränen mir nahe waren.)414
Es ließen sich viele solcher oder ähnlicher Lobeshymnen aufzählen.Der Grundte-
nor der meisten Besprechungen war: Die Gemälde von Greuze sind weniger dem
Genre als der Historie zuzurechnen. Es sei hier nur an Diderots oben zitierten begei-
sterten Ausruf erinnert, den er im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum
Gattungsgefüge machte.
Als Greuze sich nun vor die Notwendigkeit gestellt sah, endlich sein Aufnahme-
werk abzuliefern415,bestand wohl für ihn keine Frage, daß dies ein Historienbild sein
müßte. Er versuchte sich an verschiedenen Themen und entschied sich schließlich
für »Der Kaiser Septimus Severus wirft seinem Sohn Caracalla vor, ihn in den
Gebirgsengen von Schottland habe ermorden lassen wollen und sagt zu ihm: Wenn
Du meinen Tod wünschst, so befiehl Papinian, mich mit diesem Schwert umzubrin-
gen« (L'empereur Sévère reproche à Caracalla son fils, d'avoir voulu l'assassiner dans
les défilés d'Ecosse, et lui dit: Si tu desires ma mort, ordonne à Papinien de me la
donner avec cette épée) (Abb.64), das er im Juli 1769 der Académie vorlegte416. Die

414 Diderot, op.cit. (Anm. 208), Bd. 1, S. 233 (Übers. Bd. 1, S. 462).

415 Normalerweise war den Agréés ein halbes Jahr zugebilligt, um ihr Aufnahmewerk einzureichen.
Als Greuze dies nach zwölfjahren immer noch nicht getan hatte, wurde ihm 1767 der Zugang
zum Salon verwehrt.

416 Neben einem Prestigedenken ist ein weiterer Grund zu nennen, der Greuze bewogen haben wird,
sich um die Position eines Historienmalers zu bemühen. Wie Diderot in seiner Salonbesprechung
von 1767 zu Doyens »Wunder der Heiligen Genovefa« (Miracle des ardents), in: Diderot, op. cit.
(Anm. 208), Bd. 3, S. 189, bemerkte, galt es bald, die Stelle des Professors an der Ecole des Elèves
Protégés zu besetzen, die Louis-Michel Van Loo innehatte. Auf diesen Posten machte sich Greuze
Hoffnungen. Zum Professor konnte jedoch nur ein Historienmaler ernannt werden.
Zu den anderen von Greuze in Erwägung gezogenen Themen siehe Edgar Munhall, Les dessins de
Grenze pour »Septime Sévère«, in: L'Œil, April 1965, S. 27, und Kat. Ausst. Jean-Baptiste Greuze.
1725-1805, Dijon (Palais des Etats de Bourgogne) 1977, S. 154, zu dem Bild vgl. auch Thomas
E. Crow, Painters and Public Life in Eighteenth-Century Paris, New Haven/London 1985, S. 164-
168.
 
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