276 Zur Korrektur der Gattungshierarchie
Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß Greuze mit dem »Väterlichen
Fluch« und dem »Bestraften Sohn« den einmal mit seinem Aufnahmewerk einge-
schlagenen Weg weiterverfolgte. Den Bildern wird zu Recht im allgemeinen die
Bezeichnung Historie zuerkannt, wenn auch das Thema zeitgenössisch-bürgerlicher
Natur ist. Alle wesentlichen Anforderungen an ein Historienbild sind erfüllt. Es sol-
len an dieser Stelle nicht die Elemente wiederholt werden, die Greuze den unter-
schiedlichen Vorbildern entlehnte. Einzig auf den Bereich der expression des passions
sei noch einmal hingewiesen, dem hier eine Bedeutung zukommt wie in kaum
einem anderen Bild dieser Zeit, so als wollte Greuze unter Beweis stellen, daß er sehr
wohl in der Lage war, das Spektrum der dramatischen Leidenschaften, die eine Histo-
rie erfordert, wiederzugeben. Er hatte anscheinend eingesehen, daß der »Septimus
Severus« in diesem Bereich die größten Mängel aufwies. Die Zuhilfenahme der Le
Brunschen Vorlagen ist in diesem Zusammenhang - quasi als Garant für die erfolg-
reiche Gestaltung der dramatischen Affekte - nur konsequent. Greuze verarbeitete
sie jedoch und entwickelte sie weiter. Er überprüfte sie an der Natur und ergänzte und
differenzierte sie durch die Hinzufügung von gestischen Ausdrucksformen. So wir-
ken sie in der Komposition nicht wie Fremdkörper, sondern fügen sich organisch in
sie ein.
Mit dem Bilderpaar war Greuze der Schritt gelungen von der malerischen Entspre-
chung der »Comédie larmoyante« in seinen frühen mehrfigurigen Werken zu derje-
nigen der »Tragédie bourgeoise«, um hier mit den präziseren Begriffen der Literatur
zu operieren. So werden die beiden Werke immer wieder in einen Zusammenhang
mit den dramentheoretischen Überlegungen Diderots gestellt. Besonders der »Väter-
liche Fluch« gilt einzelnen Autoren als die direkte Entsprechung einer Szene aus
Diderots »Père de famille« (1758)444. Dem kann so nicht zugestimmt werden. Der
nicht unwesentliche Unterschied liegt in der sozialen Zugehörigkeit der Akteure.
Sind diese bei Diderot dem niederen, verbürgerlichten Adel zuzurechnen, so besteht
bei Greuze kein Zweifel an ihrem kleinbürgerlichen Stand. Der »Père de famille« ver-
dient die Bezeichnung »bürgerlich« unabhängig vom sozialen Status der Personen.
Denn es wird in dem Stück eine Moral vermittelt, die als spezifisch bürgerlich
betrachtet werden muß, diejenige der patriarchalisch organisierten Kleinfamilie445.
Die Personen sind zwar nicht bürgerlich, handeln aber bürgerlich. Durch die Zuge-
hörigkeit der Akteure zum (wenn auch niederen) Adel wird zudem der Anspruch
stellte und die stets parallel zu den mehrfigurigen Werken entstanden sind. In diesen Bildern
kopierte sich Greuze häufig nur noch selbst. Hier machte sich der Niedergang seiner Kunst zuerst
bemerkbar. Die eigentliche Qualität der Greuzeschen Kunst, die Einfühlung in menschliche
Empfindungen und die Vermeidung eines Schematismus, ging dabei verloren.
444 So Munhall, in: Kat. Ausst. Greuze, op. cit. (Anm. 416), S. 182.
445 Vgl. zu dieser Frage Bengt Algot Sorensen, Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und
das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984, besonders S. 11-61.
Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß Greuze mit dem »Väterlichen
Fluch« und dem »Bestraften Sohn« den einmal mit seinem Aufnahmewerk einge-
schlagenen Weg weiterverfolgte. Den Bildern wird zu Recht im allgemeinen die
Bezeichnung Historie zuerkannt, wenn auch das Thema zeitgenössisch-bürgerlicher
Natur ist. Alle wesentlichen Anforderungen an ein Historienbild sind erfüllt. Es sol-
len an dieser Stelle nicht die Elemente wiederholt werden, die Greuze den unter-
schiedlichen Vorbildern entlehnte. Einzig auf den Bereich der expression des passions
sei noch einmal hingewiesen, dem hier eine Bedeutung zukommt wie in kaum
einem anderen Bild dieser Zeit, so als wollte Greuze unter Beweis stellen, daß er sehr
wohl in der Lage war, das Spektrum der dramatischen Leidenschaften, die eine Histo-
rie erfordert, wiederzugeben. Er hatte anscheinend eingesehen, daß der »Septimus
Severus« in diesem Bereich die größten Mängel aufwies. Die Zuhilfenahme der Le
Brunschen Vorlagen ist in diesem Zusammenhang - quasi als Garant für die erfolg-
reiche Gestaltung der dramatischen Affekte - nur konsequent. Greuze verarbeitete
sie jedoch und entwickelte sie weiter. Er überprüfte sie an der Natur und ergänzte und
differenzierte sie durch die Hinzufügung von gestischen Ausdrucksformen. So wir-
ken sie in der Komposition nicht wie Fremdkörper, sondern fügen sich organisch in
sie ein.
Mit dem Bilderpaar war Greuze der Schritt gelungen von der malerischen Entspre-
chung der »Comédie larmoyante« in seinen frühen mehrfigurigen Werken zu derje-
nigen der »Tragédie bourgeoise«, um hier mit den präziseren Begriffen der Literatur
zu operieren. So werden die beiden Werke immer wieder in einen Zusammenhang
mit den dramentheoretischen Überlegungen Diderots gestellt. Besonders der »Väter-
liche Fluch« gilt einzelnen Autoren als die direkte Entsprechung einer Szene aus
Diderots »Père de famille« (1758)444. Dem kann so nicht zugestimmt werden. Der
nicht unwesentliche Unterschied liegt in der sozialen Zugehörigkeit der Akteure.
Sind diese bei Diderot dem niederen, verbürgerlichten Adel zuzurechnen, so besteht
bei Greuze kein Zweifel an ihrem kleinbürgerlichen Stand. Der »Père de famille« ver-
dient die Bezeichnung »bürgerlich« unabhängig vom sozialen Status der Personen.
Denn es wird in dem Stück eine Moral vermittelt, die als spezifisch bürgerlich
betrachtet werden muß, diejenige der patriarchalisch organisierten Kleinfamilie445.
Die Personen sind zwar nicht bürgerlich, handeln aber bürgerlich. Durch die Zuge-
hörigkeit der Akteure zum (wenn auch niederen) Adel wird zudem der Anspruch
stellte und die stets parallel zu den mehrfigurigen Werken entstanden sind. In diesen Bildern
kopierte sich Greuze häufig nur noch selbst. Hier machte sich der Niedergang seiner Kunst zuerst
bemerkbar. Die eigentliche Qualität der Greuzeschen Kunst, die Einfühlung in menschliche
Empfindungen und die Vermeidung eines Schematismus, ging dabei verloren.
444 So Munhall, in: Kat. Ausst. Greuze, op. cit. (Anm. 416), S. 182.
445 Vgl. zu dieser Frage Bengt Algot Sorensen, Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und
das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984, besonders S. 11-61.