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Das Primat der Wissenschaftlichkeit
Form übernommen und durch einige Beobachtungen ergänzt wurde511. Damit fan-
den Watelets Betrachtungen selbst Aufnahme in einem Werk, das kein kunsttheoreti-
sches Anliegen verfolgte.
Watelets systematische Darlegungen wiederholte, in geraffter Form, auch Jean-
Joseph Sue (1760-1830), nachdem er Le Bruns und Dandré-Bardons Ausführungen
kritisiert hatte. Der an der Académie als Anatomie-Professor wirkende Chirurg der
Charité konnte Le Bruns Klassifikation der Leidenschaften in »simple« und »com-
posé« nicht nachvollziehen. Dandré-Bardons Vierereinteilung hielt er zwar für
wesentlich besser, aber doch für zu grobmaschig, so daß einzelne Affekte keiner der
Gruppen zugeordnet werden könnten. Watelets Strukturierungsversuch hingegen
bezeichnete er etwas euphorisch als naturgemäße Ordnung:
»Chaque passion est placée à son rang; c'est un tableau fidèle des différens mouvemens
dont notre ame est susceptible.«
(Jede Leidenschaft ist auf ihren Platz gewiesen. Es ist ein getreues Gemälde der verschie-
denen Bewegungen, für die unsere Seele empfänglich ist.)512
Watelet selbst stellte an den Anfang des Artikels »Passions« für seinen von Léves-
que vollendeten »Dictionnaire des arts« Le Bruns Traktat, das er vollständig wieder-
gab, ergänzt durch eine kurze Kritik von Winckelmann. Dem folgen die lediglich zu
Beginn und am Ende etwas gekürzten Ausführungen Dandré-Bardons. Er schloß
den Beitrag mit dem systematischen Teil seiner eigenen Abhandlung. Es ist mit
Sicherheit kein Zufall, daß Watelet hier neben seinen eigenen Überlegungen die zwei
Studien aufnahm, die zwar in ihren Ergebnissen von seiner Einschätzung abwichen,
die aber von einer ähnlichen Problemstellung ausgegangen waren. Pierre-Charles
Lévesque (1736 - 1812) fügte noch einen Aufsatz mit dem Titel »Pratique des artistes
grecs dans la représentation des passions« hinzu, verfolgte damit jedoch ein anderes
Anliegen als Watelet. Ihm ging es nicht um eine wissenschaftlich-systematische
Durchdringung der Materie, sondern eher um eine historische Würdigung der grie-
chischen Kunst, die vor dem Hintergrund des Neoklassizismus zu sehen ist513.
Diese Bemühungen um eine Strukturierung der Leidenschaften, die auf kunsttheo-
retischer Ebene einen Höhepunkt in Watelets Ausführungen fanden, zeitigten den
überraschenden Nebeneffekt, daß das Traktat Le Bruns zu einem Zeitpunkt eine
erneute Aufmerksamkeit erfuhr, als die Auseinandersetzung damit weitgehend abge-
511 Antoine-Joseph Pernety, La connoissance de l'homme moral par celle de l'homme physique,
2 Bde., Berlin 1776-1777, Bd. 2, S. 333-341 und S. 343-352.
512 Sue, Elémens d'anatomie, op. cit. (Anm. 308), S. 14, auch in: ders., Essai sur la physiognomie,
op. cit. (Anm. 308), S. 50. Sue unterlag dabei dem Mißverständnis, daß es sich bei den sechs
(beziehungsweise sieben) Beispielen Watelets bereits um ein abgeschlossenes System handelte,
das keiner Erweiterung mehr bedürfe.
513 Watelet und Lévesque, op. cit. (Anm. 402), Bd. 3, S. 732-780.
Das Primat der Wissenschaftlichkeit
Form übernommen und durch einige Beobachtungen ergänzt wurde511. Damit fan-
den Watelets Betrachtungen selbst Aufnahme in einem Werk, das kein kunsttheoreti-
sches Anliegen verfolgte.
Watelets systematische Darlegungen wiederholte, in geraffter Form, auch Jean-
Joseph Sue (1760-1830), nachdem er Le Bruns und Dandré-Bardons Ausführungen
kritisiert hatte. Der an der Académie als Anatomie-Professor wirkende Chirurg der
Charité konnte Le Bruns Klassifikation der Leidenschaften in »simple« und »com-
posé« nicht nachvollziehen. Dandré-Bardons Vierereinteilung hielt er zwar für
wesentlich besser, aber doch für zu grobmaschig, so daß einzelne Affekte keiner der
Gruppen zugeordnet werden könnten. Watelets Strukturierungsversuch hingegen
bezeichnete er etwas euphorisch als naturgemäße Ordnung:
»Chaque passion est placée à son rang; c'est un tableau fidèle des différens mouvemens
dont notre ame est susceptible.«
(Jede Leidenschaft ist auf ihren Platz gewiesen. Es ist ein getreues Gemälde der verschie-
denen Bewegungen, für die unsere Seele empfänglich ist.)512
Watelet selbst stellte an den Anfang des Artikels »Passions« für seinen von Léves-
que vollendeten »Dictionnaire des arts« Le Bruns Traktat, das er vollständig wieder-
gab, ergänzt durch eine kurze Kritik von Winckelmann. Dem folgen die lediglich zu
Beginn und am Ende etwas gekürzten Ausführungen Dandré-Bardons. Er schloß
den Beitrag mit dem systematischen Teil seiner eigenen Abhandlung. Es ist mit
Sicherheit kein Zufall, daß Watelet hier neben seinen eigenen Überlegungen die zwei
Studien aufnahm, die zwar in ihren Ergebnissen von seiner Einschätzung abwichen,
die aber von einer ähnlichen Problemstellung ausgegangen waren. Pierre-Charles
Lévesque (1736 - 1812) fügte noch einen Aufsatz mit dem Titel »Pratique des artistes
grecs dans la représentation des passions« hinzu, verfolgte damit jedoch ein anderes
Anliegen als Watelet. Ihm ging es nicht um eine wissenschaftlich-systematische
Durchdringung der Materie, sondern eher um eine historische Würdigung der grie-
chischen Kunst, die vor dem Hintergrund des Neoklassizismus zu sehen ist513.
Diese Bemühungen um eine Strukturierung der Leidenschaften, die auf kunsttheo-
retischer Ebene einen Höhepunkt in Watelets Ausführungen fanden, zeitigten den
überraschenden Nebeneffekt, daß das Traktat Le Bruns zu einem Zeitpunkt eine
erneute Aufmerksamkeit erfuhr, als die Auseinandersetzung damit weitgehend abge-
511 Antoine-Joseph Pernety, La connoissance de l'homme moral par celle de l'homme physique,
2 Bde., Berlin 1776-1777, Bd. 2, S. 333-341 und S. 343-352.
512 Sue, Elémens d'anatomie, op. cit. (Anm. 308), S. 14, auch in: ders., Essai sur la physiognomie,
op. cit. (Anm. 308), S. 50. Sue unterlag dabei dem Mißverständnis, daß es sich bei den sechs
(beziehungsweise sieben) Beispielen Watelets bereits um ein abgeschlossenes System handelte,
das keiner Erweiterung mehr bedürfe.
513 Watelet und Lévesque, op. cit. (Anm. 402), Bd. 3, S. 732-780.